Bauen in Lyss
Bauen - Notwendigkeit menschlicher Existenz seit Jahrtausenden, Ausdruck quantitativer Entwicklung und qualitativer Ansprüche zugleich, Zeugnis des Zeitgeistes, Zeichen politischer und wirtschaftlicher Aktivitäten, Ausfluss des jeweiligen technischen Könnens, Niederschlag schöpferischen Wirkens oder seelenloser, profitorientierter Wohnraumproduktion. Pyramiden, Tempel, Burgen, Paläste, Kathedralen, Schlösser, Konzentrationslager, Gefängnisse, Bauernhäuser, Werkstätten, Fabriken, Wohnblocks, Einfamilienhäuser, Reihenhäuser, Wolkenkratzer, Kasernen, Freizeit- und Sportanlagen - sie alle sind klar ablesbarer Ausdruck menschlichen Wirkens und Strebens im Laufe der Menschheitsgeschichte, sind Symbole vergangener Epochen und der heutigen Zeit, Symbole, in denen sich Grundhaltungen und Bedürfnisse der jeweiligen Gesellschaft zu dauerhaftem Bestand kristallisieren.
Gebaut hat der Mensch seit Menschengedenken nur dort, wo er eine Zukunft vor sich sah, wo er bereit war zu bleiben und seine Zukunft aufzubauen. Wenn in Lyss - in den letzten Jahren gerade von privater Seite wahrscheinlich wohl in etwas zu kurz geratenen Intervallen - gebaut wurde, dann ist dies vorerst als Ausdruck eines auf die Zukunft ausgerichteten Handelns zu werten. Als Zeichen dafür auch, dass man sich in unserem Dort auch in Zukunft eine positive Entwicklung erhofft. Auf unsicherem, wackeligem Boden wird nicht investiert und gebaut- das gilt nicht zuletzt auch für unsere Gemeinde.
Verschiedene Faktoren haben in den letzten rund 150 Jahren dazu beigetragen, dass sich unser Dorf von einer bäuerlich-handwerklichen Kleinsiedlung zur Fast-Stadt mit heute rund 10000 Einwohner entwickelt hat. Die topografisch günstige Lage im westlichen Mittelland, die
ungefähre Mittellage zwischen den beiden grössten bernischen Städten Bern und Biel, die Juragewässerkorrektion im letzten Jahrhundert (die erst den Strassen- und Eisenbahnbau im anbrechenden lndustriezeitalter ermöglichte), das gezielte Strassenbauprogramm der 1840er Jahre im kurz zuvor vom Patrizierstaat zur Demokratie gewordenen Kanton Bern, das Bahnfieber des letzten Jahrhunderts und der Autobahnbau unserer Zeit - dies alles löste die starke bauliche Entwicklung unseres Dorfes aus.
Vor dem Bau der Bahnlinien Bern – Lyss - Biel (1864), Lyss – Palézieux - Lausanne (1876) und Lyss - Solothurn (1876) zählte unser Dorf 1568 Einwohner (1850). Bis zum Jahr 1900 ergab sich bereits eine Bevölkerungszunahme von rund 65% (1900: 2567 Einwohner) und bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg gar mehr als eine Verdoppelung (1920: 3417 Einwohner). Während zwanzig Jahren blieb die Bevölkerungszahl praktisch auf gleicher Höhe ( 1941: 3523 Einwohner ), doch dann setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein starker Anstieg ein. Er ist im wesentlichen auf die behördlichen Wirtschaftspolitik zurückzuführen, die seit dem Zweiten Weltkrieg der Schaffung von vielfältigen Arbeitsplätzen eine grosse Bedeutung beimisst, damit die erwerbstätige Bevölkerung möglichst am Wohnort selbst einen Arbeitsplatz findet.
1950 belief sich die Bevölkerungszahl auf 4126 Einwohner. 1960 (nach der Ansiedlung der ersten Betriebe im neugeschaffenen Industriegebiet Schachen] zählte man schon 5616 Einwohner. im Zeitraum 1950-1960 ergab sich ein Bevölkerungszuwachs von 36%, der sich im folgenden Jahrzehnt noch verstärkte (Bevölkerungszunahme 1960-1970: 45%). im Zeitraum 1970 4980 hingegen flachte der Bevölkerungsanstieg stark ab (Zunahme: 7%), im wesentlichen bedingt durch die wirtschaftliche Rezession um die Mitte der siebziger Jahre. Neue Impulse für die Bautätigkeit brachte in den siebziger Jahren die schrittweise Erschliessung einer zweiten grossen Gewerbe- und lndustriezone (lndustriegebiet Grien), vor allem aber die Eröffnung des Autobahnteilstückes Lyss-Lätti (Eröffnung November 1986], womit einerseits der Anschluss an das schweizerische Autobahnnetz und andererseits eine Umfahrung
von Lyss auf der bernischen Nord-Süd-Strassenverkehrs-Hauptachse verwirklicht wurde. Dieser Strassenbau löste erneut eine verstärkte Bautätigkeit aus. vor allem auf dem Sektor Wohnungsbau; im Zeitraum 1980-1989 stieg denn die Bevölkerungszahl auch um 12% an.
Neben den neueren Wohnüberbauungen (häufig übrigens erstellt von auswärtigen Baukonsortien) und den Gewerbe- und Industriebauten der letzten Jahre, lieferte die tiefgreifende bauliche Veränderung im Dorfzentrum immer wieder Gesprächsstoff. Hält man sich indessen vor Augen, wie unrationell der teure Boden gerade im Dorfzentrum in früheren Jahrzehnten ausgenutzt wurde - Anfang der sechziger Jahre traf man im Ortskern noch Unkrautecken, Lagerplätze für Bretter, Holzstangen und Baumaterial oder baufällige Schuppen an - hält man sich eine solche Bodennutzung vor Augen, oder vergegenwärtigt man sich dabei etwa noch die unrühmlichen hygienischen Verhältnisse, die man damals auf den Toiletten verschiedener Restaurants antraf dann ist bezüglich Baustruktur nicht viel verlorengegangen. Verlorengegangen aber ist manch vertrauter Winkel und damit ein gewisses räumliches, den Menschen unbewusst ansprechendes und beruhigendes Mass in den Gebäudeproportionen. Verlorengegangen sind da und dort auch vertraute Baustrukturen wie etwa Riegbau und Jugendstilbauten. Dank unseres Baureglements, das bei Neubauten im Dorfkern beispielsweise Höchstlängen und -höhen, bepflanzte Plätze in bestimmten Abständen und Laubengänge vorschreibt, dank des Verständnisses aber auch für die Erhaltung von wertvollen Baumbeständen sind umgekehrt neue, gestalterisch überzeugende Lösungen gefunden und realisiert worden.
Warum aber diese Massierung von Neubauten im Dorfzentrum, warum diese überdimensionierte Bautätigkeit in den letzten Jahren? ln unserer schnelllebigen Zeit übersehen wir oft, dass sich die bauliche Entwicklung unserer Ortschaft ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre fast ausschliesslich auf die Realisierung des lndustriegebiets Schachen und auf Wohnbauten konzentrierte. Hier lag das Entwicklungsschwergewicht, und die besondersders in den sechziger Jahren ausgeprägt auftretende lndustrialisierungspolitik, die in der Realisierung des lndustrierings augenfällig Gestalt annahm, stand alles überragend im Vordergrund. Zwar kamen im Dorf in den fünfziger Jahren die Neubauten des Bahnhofs und des Postgebäudes dazu, sonst aber herrschte im Dorfzentrum, abgesehen vom Bau der Bahnunterführung am Hirschenplatz, praktisch Bauruhe, und zwar vor allem beim Bau von neuen Geschäftshausern. Ausnahmen waren diesbezüglich nur der Neubau der Kantonalbank und ein Geschäftshaus an der Bielstrasse. Die Bevölkerungszahl stieg im gleichen Zeitraum aber unablässig an - Industrie- und Wohnblockbauten hatten selbstverständlich ihre Auswirkungen- das Dorfzentrum indessen veränderte sich baulich kaum.
Zwar gab es in den sechziger Jahren zwei Wettbewerbe für Grossüberbauungen vierzehn- und mehrstöckigen Gebäuden. Diese gigantischen Projekte verliefen aber im Sand und wurden nie realisiert. Später folgte ein zweiter Schub von Gigantismus, als nämlich zwischen Kirchenfeld- und Aarbergstrasse das Projekt eines Einkaufszentrums im Grünen sich abzuzeichnen begann. Die Vorstellung, der Dorfkern könnte sich bei der Verwirklichung des Projekts entleeren, renovationsbedürftige Geschäfte würden den Dorfkern verlassen und sich im Grünen niederlassen, gewann an Boden. Rasch wurde nun der Zentrumsgedanke aktuell, zeigte sich in einer bisher unbekannt gewesenen Dimension und sensibilisierte die Bevölkerung. Diese Sensibilisierung führte denn auch zur ersten und bisher einzigen Volksinitiative, die in der Geschichte unseres Dorfes ergriffen wurde. Es handelt sich um die sogenannte Ortskernplanungsinitiative, die von mehr als tausend Bürgern unterzeichnet wurde. Sie verlangte, dass für die bauliche Gestaltung des Ortskerns klare planerische und rechtliche Richtlinien und Grundlagen bereitgestellt wurden, wobei die Attraktivität des gewachsenen Zentrums und die Fussgängerfreundlichkeit besonders zu beachten seien.
Nachdem die Zentrumsidee, gleichzeitig noch gefördert durch die damals neu erarbeitete Regionalplanung, immer mehr an Gewicht gewonnen hatte und etwa zur gleichen Zeit auch die baurechtlichen Grundlagen bereitgestellt worden waren, war bald an verschiedensten Stellen des Dorfes von Überbauungsprojekten die Rede. Man wurde sich in der Lysser Geschäftswelt bewusst, dass bezüglich Zustand und Anzahl der Geschäftsräumlichkeiten ein jahrelanger Nachholbedarf bestand - nicht zuletzt auch angesichts der damals entstandenen grossen Einkaufszentren Carrefour und Shoppyland in der näheren und weiteren Umgebung.
Eine eindeutige Zielsetzung in Regional- und Ortsplanung, tragfähige baurechtliche Grundlagen, ständig anwachsende Einwohnerzahlen, Konkurrenzunternehmen auf dem Papier oder in der Realität und schliesslich auch das Erwachen aus einem gewissen geschäftlichen Dämmerzustand, der angesichts des steten Bevölkerungswachstums weitgehend gefahrlos verlief- dies alles führte seit Beginn der siebziger Jahre zu einer ausserordentlich regen Bautätigkeit im Dorfzentrum - verbunden übrigens mit dem Nachholbedarf der öffentlichen Hand, so etwa auf dem Sektor Schulbauten oder Verwaltungsräumlichkeiten. So ist die noch im Gang befindliche Bautätigkeit im Dorfzentrum einerseits augenfälliger Ausdruck des seit den siebziger Jahren entstandenen Zentrumsbewusstseins, das inzwischen aufgrund sorgfältiger Planungen manifest geworden ist und Lyss als Regionalzentrum zwischen Bern und Biel definiert. Anderseits ist diese Bautätigkeit aber auch Ausdruck einer in unserem Dorf feststellbaren Grundströmung von Optimismus, die seit dem Zweiten Weltkrieg immer vorhanden war und heute noch praktisch unvermindert festzustellen ist.
Fragt man sich angesichts der seit vielen Jahrzehnten allgemein regen, mehrmals durch übergeordnete Impulse schubweise ausgelösten Bautätigkeit, was denn nun unser Dorf in seiner Baustruktur heute darstellt, dann halten Fachleute (ISOS-Bericht 1981) etwa fest, dass es «gewisse räumliche Qualitäten, insbesondere im Bereich des pappelgesäumten Lyssbachs. der baumbestandenen Aarbergstrasse und des zentralen Hirschenplatzes» aufweist. Speziell hervorgehoben werden zudem die «hohen architekturhistorischen Qualitäten dank der deutlich ablesbaren Siedlungsentwicklung››, wobei gleichzeitig auf die «grosse Zahl wertvoller Einzelbauten verschiedensten Typs und verschiedenster Epochen» hingewiesen wird. Ehemalige Strohdachhäuser, Mühlen, Kirchen, Gasthöfe, Schulhäuser, Fabriken, Arbeiterhäuser, Villen, Hotels und Geschaftshàuser werden dabei als Beispiele angeführt- Bauten, die ausnahmslos im Sinne der einleitenden Ausführungen zu werten sind.