Bodenfunde in Lyss

Albert Jahn, Archivar und Professor an der Hochschule in Bern, vermerkte in seinem 1850 veröffentlichten Werk «Der Kanton Bern, deutschen Theils, antiquarischtopographisch beschrieben››, das er im Untertitel als «Handbuch für Freunde der vaterländischen Vorzeit» bezeichnete, über unser Dorf: «Oberhalb Lyss auf dem sogenannten Leuernfelde, lässt die Sage eine Stadt gestanden haben, deren Trümmer noch vorhanden sein sollen. Wie alle bei uns vorkommenden Sagen von namenlosen Städten, so bezieht sich ohne Zweifel auch diese auf das Vorhandensein von mehr oder weniger bedeutenden Bauresten aus römischer Zeit. Untersuchungen fehlen noch, wie an hundert Orten. im Dorfe selbst, auf dem sogenannten Huttirain, der seitwärts am Pfarrgut liegt, befindet sich ein alter Begräbnisplatz mit Gerippen, die fast zu Tage liegen und unseres Wissens keine Beigaben haben. Die Stelle heisst der Kirchhubel, weil daselbst vor Alters die Kirche gestanden haben soll. Diese Sage als richtig angenommen, so haben wir Grabstätten aus der ältesten germanischen-christlichen Zeit. Sonst könnte man Furchengräber gemeiner römisch-helvetischer Bewohner oder heidnisch-germanischer Ansiedler vermuthen. Untersuchte Grabhügel liegen im Lyss-Walde››. Zurückhaltender äusserte sich 1893 der Berner Historiker Wolfgang Friedrich von Mülinen in seiner Schrift «Beiträge zur Heimathkunde des Kantons Bern deutschen Theils››, wenn er festhielt: «Auf dem Leuernfeld oberhalb Lyss soll eine Stadt gestanden haben. Auf dem Huttirain im Dorfe, bei dem sogenannten Kirchhubel, steht ein mehr als 80 Fuss hoher Grabhügel. Zwischen Lyss und Busswyl sind drei Grabhügel››. Angaben über schon zur damaligen Zeit bekannt gewesene Einzelfunde enthalten die beiden Berichte nicht. Der Fachliteratur hingegen ist zu entnehmen, dass um das Jahr

1877 in der Hardern eine Bronzeaxt mit mittelständigem Schaftlappen gefunden worden sein soll. Weitere Streufunde, d. h. vereinzelte Bodenfunde, die noch nicht zur Annahme berechtigen, dass unser Gebiet zur entsprechenden Zeit fest besiedelt war, sondern nur gelegentlich von Menschen der Nachbarschaft durchstreift wurde, sind beispielsweise eine bronzene Lanzenspitze aus dem Aarekies, zwei Bronzeringe aus der ehemaligen Lehmgrube Weibel, eine kleine weibliche Bronzestatuette aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, die archaisch-etruskischer Herkunft sein könnte, eine radförmige, siebenspeichige Zierscheibe aus Bronze sowie, aus der Kiesgrube Bangerter, eine Tonscherbe aus dem Neolithikum (Jungsteinzeit).

irgendwelche Spuren der sagenhaften Stadt auf dem Leuernfelde wurden bis heute nicht entdeckt; vielleicht erbrächte eine systematische archäologische Untersuchung des Gebiets Bodenfunde verschiedener Art, die für die weitere Aufhellung der Lysser Ortsgeschichte von interesse sein könnten. Ganz anders verhält es sich hingegen mit der von den Forschern Jahn und von Mülinen erwähnten Grabstelle auf dem Chilchhübeli, auf die auch der bekannte Diessbacher Altertumsfreund und Heimatforscher Eugen Schmid kurz nach der Jahrhundertwende hinwies. Er stellte fest, dass auf dem Chilchhübeli in alten Zeiten ein Refugium (Fliehburg) und eine Kirche gestanden hätten. Erst die umsichtig geführten Grabungen von Dr. Ernst Oppliger belegten allerdings die Richtigkeit der früheren Hinweise auf diesen historisch wichtigsten Ort unseres Dorfes. Die aussergewöhnlich vielfältigen Funde der an dieser Stelle entdeckten Gräberfelder belegten eindeutig, dass auf dem Boden der heutigen Gemeinde Lyss spätestens seit rund anderthalbtausend Jahren Menschen ansässig waren.

Zu dieser Erkenntnis war man allerdings bereits im Jahre 1909 gekommen, als man in der ehemaligen Kiesgrube Häberli an der Sonnhalde, westlich der alten Hauptstrasse Lyss - Büren, fünf Reihengräber entdeckte. Zwei dieser Gräber enthielten sogenannte Beigaben, d. h. Gegenstände, die man den Toten einstmals mit ins Grab gegeben hatte. Neben zwei eisernen, einschneidigen Skramasaxen (Kurzschwerter) kamen verschiedene kunstvoll mit aufgehämmerten Silberornamenten verzierte, trapez- und dreieckförmige Gürtelschnallen aus Eisen sowie zwei Eisenmesser und ein Feuerstahl zum Vorschein. Nach dem Urteil der Archäologen handelt es sich bei allen diesen Bodenfunden um Gegenstände aus der Völkerwanderungszeit. Form der Gürtelschnallen und der zugehörigen Gegenplatte sowie Ornamentmotive (wellenförmiger Schlangenleib, Schlingen, schildförmige Muster) und deren Anordnung erlaubten es den Forschern, diese Funde zeitlich ins 7.Jahrhundert nach Christus einzuordnen.

Auf Funde der Völkerwanderungszeit stiess Dr. Ernst Oppliger auch bei seinen umfangreichen Grabungen, die er in den Jahren 1931-1933 auf dem Chilchhübeli durchführte. Vereinzelte Knochen- und Waffenfunde hatten schon in früheren Jahrzehnten die Vermutung wachgerufen, dass der markante Sandsteinsporn des Chilchhübelis, von dem aus das Lyssbachtal und die Aareebene überblickt werden kann, für die Siedlungsgeschichte unseres Dorfes von besonderer Bedeutung sein müsse. Erst die Grabungsarbeiten des verdienten Lysser Lokalhistorikers Oppliger aber brachten einiges Licht ins Dunkel der jahrzehntealten Vermutungen. Schon die ersten Versuchsgrabungen mit ihren in den Sandstein gehauenen Gräbern und Skelettfunden erbrachten den Beweis, dass auf dem Chilchhübeli in früheren Zeiten eine Friedhofanlage bestanden haben musste. ln einer Schuttschicht, die sich nur wenige Handbreit unter der Erdoberfläche ausbreitete, stiess man zudem auf römische Leistenziegel, Ziegelplatten, Dachziegel, bemalten Mauerverputz und Glasstücke. Der tatsächliche Umfang des Gräberfeldes trat aber erst im Verlauf der gesamten Grabungsarbeiten zutage: lm Laute der Zeit stiess man auf nicht weniger als siebzehn grösstenteils stockwerkartig auf mehreren Ebenen angelegte und horizontal planmässig angelegte Gräber. Einige beherbergten nur Skelette, andere enthielten dazu Beigaben wie Spatha (Langschwert), Skramasax, Gürtelschnallen, Eisenmesser, Bronzeknöpfe und Reitersporn. Ein in den Sandstein gehauenes, kreisrundes Becken ungefähr in der Mitte und eine oben etwas verengte Zisterne in der südöstlichen Ecke des Gräberfeldes sowie bogenförmig angelegte Mauerreste, Bauschutt und Brandspuren trugen immer mehr zur Gewissheit bei, dass das Chilchhübeli im Laufe der Zeit verschiedenen kultischen Zwecken gedient haben musste. Zu Beginn der Grabungsarbeiten war man noch weitgehend im Dunkeln getappt; nach jahrelangen Grabungs- und Forschungsarbeiten hingegen war es Dr. Ernst Oppliger möglich, zum Chilchhübeli erstaunliche Erkenntnisse vorzulegen: lm westlichen Teil der Anlage wurden über einer ursprünglichen baulichen Anlage frühgermanische Gräber angelegt, auf die später ein mittelalterliches Kirchenschiff zu stehen kam. Im östlichen Teil dagegen befand sich als vermutlich älteste Anlage eine Zisterne, über die in späteren Zeiten weitere frühgermanische Gräber und schliesslich ein mittelalterliches Kirchenchor zu liegen kamen - ein Teilstück der urkundlich im Jahre 1009 erstmals erwähnten Kirche von Oberlyss.

Das reichhaltige Fundmaterial und sachkundige Vergleiche mit ähnlichen Grabungsergebnissen führten den Berner Archäologen Prof. Tschumi zu folgender Beurteilung des Chilchhübelis: «Das Vorkommen von römischen Bauresten weist auf eine ursprünglich römische Anlage in der Nähe des Kirchhubels hin. Nach Anlage und Bau der Gräber handelt es sich um ein typisch frühgermanisches Gräberfeld des 7. Jahrhunderts, das burgundischen Einfluss verrät... Ueber diesen später nicht mehr erkannten Waffengräbern erhob sich eine karolingische Kapelle des 8. und 9. Jahrhunderts, Eingang im Westen, mit halbkreisförmiger Apsis (Altarnische) ... Die Aushöhlung mit Brandspuren inmitten des Gräberfeldes lässt möglicherweise auf einen Speisetisch oder Mensa nach Muster von frühchristlichen Bauanlagen schliessen. Das ungewöhnliche Mass der Gräber legt den Gedanken an lange Zeit benutzte Grabkammern nahe; auch sind mehrere Nischengräber vorhanden. Die Zisterne könnte zu einer unterirdischen Grabkapelle … oder zu einer Krypta als Sacrarium gehört haben. Die Zisternen dienten zur Aufnahme des gebrauchten Weihwassers oder der Asche verbrannter Weihegegenstände. Die Kirche zu Lyss war um 1009 im Besitze der Abtei St. Maurice. Es ist daher möglich, dass man in Lyss nach dem Muster von St. Maurice eine Grab- oder Cementerialkirche eingerichtet hatte, wo die Verstorbenen um den Heiligen herum begraben worden sind

Diese Grabkirchen waren bei den Burgundern beliebt. Eine solche Annahme würde das Vorkommen von Kirche und Gräberfeld nebeneinander am einfachsten erklären››.

Eine Grabanlage im Chrüzwald, die ein gutes Jahrtausend älter war als die Gräberfelder auf dem Chilchhübeli und an der Sonnhalde, untersuchte vor wenigen Jahren, nämlich im Sommer 1968, der archäologische Dienst des Kantons Bern, da die Gräber anschliessend der Kiesgrubenerweiterung der Firma Bangerter zum Opfer fielen. Schon auf der «Carte archéologique du Canton de Berne» von 1876 sowie bei Jahn und von Mülinen waren diese Gräber aufgeführt worden, weil man bereits im letzten Jahrhundert von an dieser Stelle durchgeführten Grabungen wusste. 1951 sodann erhielt das Historische Museum in Bern davon Kenntnis, dass von privater Seite ein Grabhügel angeschnitten worden sei und man dabei Bruchstücke eines Tongefässes gefunden habe. lm Mai 1952 führte man deshalb eine Notgrabung durch, wobei man aufgrund von starken Bodenstörungen feststellte, dass in früheren Zeiten offenbar das gesamte Grabinventar entnommen worden war. Die Grabanlage im Chrüzwald bestand aus drei Grabhügeln (Tumuli), die in der älteren Eisenzeit aufgeworfen worden waren und ungefähr auf einer Richtung West-Ost verlaufenden Achse lagen. Sie überragten die Erdoberfläche um etwa einen Meter und wiesen folgende Durchmesser auf: 10 x 10 Meter, 13 x 14 Meter und 16 x 19 Meter.

lm südöstlich gelegenen Tumulus stiess man auf eine zentrale Steinsetzung und einen darum herumführenden Steinkreis. Beim grössten Grabhügel, in der Mitte der Grabanlage gelegen, fehlte dieser Steinkreis, dagegen entdeckte man hier eine aus kleinen Findlingen gefügte, rechteckige Trockenmauer. Erwartungsgemäss war das Fundmaterial im übrigen gering; immerhin förderte man ein von einem Totenwagen stammendes Bronzeblechfragment sowie Keramikscherben zutage. Grösse, Anlage und Fundgegenstände der Grabstelle belegen nach Ansicht der Fachleute, dass die drei in der Zwischenzeit verschwundenen Grabhügel um 600 vor Christus angelegt wurden und der Bestattung von Angehörigen herrschender Familien dienten, also sogenannte Fürstengräber waren.

Max Gribi