Der Lyssbach - von Max Gribi 109. Geschäftsbericht der Spar und Leihkassse Lyss 1975

Den Lyssbach als "Lebensader" unseres Dorfes zu bezeichnen, mag auf den ersten Blick überraschend, wenn nicht gar überheblich wirken. In einer Zeit, die weitgehend durch die Errungenschaften einer hochentwickelten Technik, nicht aber durch die Kräfte der Natur geprägt wird, einen in nichts hervorstechenden Bachlauf "Lebensader" zu nennen, wirkt indessen wohl nur für denjenigen überraschend, der mit den historischen Gegebenheiten unseres Dorfes nur wenig vertraut ist. Der Geschichtskundige hingegen weiss zu berichten, dass an den Ufern eben dieses unscheinbaren Baches unsere Vorfahren ihre stroh- und schilfbedeckten Häuser bauten und in späteren Zeiten die Wasserkraft des Lyssbachs für den Antrieb ihrer Mühlen und Sägen, der Walke und Oele nutzten. Der Kulturgeograph wiederum wird angesichts dieser Entwicklung vom Lyssbach als "Siedlungsanreiz" sprechen.

So betrachtet, war der Lyssbach jahrhundertelang zweifellos die "Lebensader" des Dorfes Lyss. In den Jahrzehnten der aufblühenden Industrialisierung und der Elektrifizierung mag die ursprüngliche Bedeutung des Baches als Energiespender zunehmend in Vergessenheit geraten sein. Immerhin waren die ersten Industriebetriebe, wie dies etwa eine der ersten Steinfabriken der Firma Bangerter AG zeigt, noch auf die Wasserkraft angewiesen, wurde diese Fabrik doch über eine langgestreckte Reihe von Transmissionsriemen vom Bach her angetrieben. In unseren Tagen indessen hat der Lyssbach seine zentrale Bedeutung wiedererlangt, nicht als gewerblich-industrieller Energielieferant allerdings, sondern (gleichsam in verwandelter Form) als siedlungspolitischer Nervenstrang: Der Lyssbach wird heute als dominierender und charakteristischer Naturraum unseres Dorfes gewertet, der sich bandartig durch die ganze Siedlung zieht, als Lebensraum also, dessen pappelumsäumte Ufer das eigentliche Gesicht unseres Dorfes ausmachen. Weitsichtige kulturelle und politische Organisationen setzten sich seit Jahren für den Schutz und die Erhaltung dieses kennzeichnenden Lebensraumes ein; in unsern Tagen haben auch die örtlichen Planungsinstanzen diesen Gedanken aufgenommen. Die ortsplanerischen Bestrebungen richten sich heute weitgehend darauf aus, die "Lebensader" Lyssbachraum nicht nur zu schützen und zu erhalten, sondern vielmehr mit neuem Leben zu erfüllen und ihn damit attraktiver zu gestalten.

Der Lyssbach tritt in einer sanften Bodensenke unterhalb des behäbigen Bauernweilers Mossaffoltern im südöstlichsten Zipfel des Amtbezirks Aarberg als unscheinbares Rinnsal an die Erdoberfläche - einige hundert Meter östlich der Staatsstrasse Büren - Rapperswil - Bern, in der Gegend des sogenannten "Lätti", das in der Gemeinde Rapperswil liegt. Unterhalb Schönbrunnen erfährt der Bach erstmals die zwingende Hand des Menschen, der seinen Lauf kanalisiert hat. Als schnurgerades, staudenbewachsenes Band durchschneidet er hier, die Gemeindegrenze zwischen Schüpfen und Rapperswil bildend, das fruchtbare Ackerland des Lyssbachtals. Seine Kraft, gespiesen durch mehrere kleine Seitenbäche, lässt sich immer deutlicher an der tiefen Furche ablesen, die er in die Humusdecke reisst. Nach der Einmündung des im Hügelgebiet des Frienisbergs entspringenden Chüelibachs zeigt er sich bereits als kräftig dahinströmender , frisch sprudelnder Bach, der zwischen Bäumen und Büschen der Ebene des Seelandes zustrebt. Stellenweise nagt der im Tal leicht hin und her pendelnde Bach das Molassegestein an. Nicht der Lyssbach allerdings war es, der sich in der Erdgeschichte den Durchbruch durch den Molasseriegel zwischen Buchegg- und Frienisberg schuf, vielmehr brachten dies in der grossen Zwischeneiszeit die Schmelzwasser des Aare- und Rhonegletschers zustande, eine Ur-Aare also, die sich durch das heute Lysssbachtal genannte Tal ins Seeland ergoss. Gurgelnd und schäumend über Bachschwellen hinunterstürzend, eilt der Bach dann Lyss zu, wird dabei zusehends breiter und ungestümer, lässt sich vom Menschen als Energiespender in Dienst nehmen, braust in Kaskaden über die Staustufen, die seine urtümliche Kraft zu zähmen versuchen und erreicht schliesslich , einige hundert Meter nachdem er aus dem Winigraben den Lööribach aufgenommen hat, den alten Dorfkern von Lyss mit seiner steinernen Bogenbrücke, über die sich jahrhundertelang der grosse West-Ost-Verkehr unseres Landes abwickelte.

Ein König-Stich aus dem Jahr 1799 schildert uns den Lyssbach, wie er seit Menschengedenken unser Dorf durchfloss. An seinem natürlichen, grasbewachsenen Ufer traf man stellenweise auf Schilfbestände. Kopfweiden ragten mit ihren Aesten auf die Wasserfläche hinaus. Dem flachen Ufer entlang, das keinen Schutz gegen Ueberschwemmungen bot, verlief ein ungepflasterter Pfad, in den die Räder der Holzkarren ihre Furchen gruben. Am Ufer des dichtbestockten Baches traf man auf den Hüterbuben, der seine Schaf- oder Ziegenherde zur Tränke trieb. Über einen einfachen Holzsteg erreichten die Dorfbewohner das andere Ufer des Lyssbaches, hinter dessen dichtem Baum- und Strauchbestand sich die mächtigen Dächer der Bauern- und Fischerhäuser breitmachten.

Ein beschauliches, naturnahes, auf uns heutige Menschen idyllisch wirkendes Leben spielte sich in früheren Zeiten an diesem Bachufer ab. Ein Leben aber auch, das durch die vor allem bei schweren Gewittern auftretenden Hochwasser des Lyssbachs oft gefährdet wurde. So wird etwa im Aemterbuch Aarberg von einer Wassernot im November 1781 berichtet, die in Lyss 72 von 95 Familien zwang, "samt ihrem kleinen Vieh schlunigst auf die ohnweit .... gelegnen Anhöhen" oder in letzter Not " auf die Bühne ihrer Häuser sich zu flüchten". Der Bach riss weite Flächen Zelg- und Wiesland mit sich, schwemmte Weinfässer, Salzvorräte, Holzstösse, Ziegen, Kartoffeln, Rüben und gar Miststöcke weg und bedeckte das weitgehend zerstörte Land "zwei und mehr Schueh hoch mit Steinen, Sand und Grien". So verwundert es denn kaum, dass die Dorfbewohner regelmässig einen erklecklichen Teil ihrer Arbeitskraft für die Bändigung des Lyssbachs einsetzen mussten. Im Jahre 1758 bespielsweise verlangte der Landvogt von Aarberg, der Lyssbach müsse mit "währschaften Krüpfen oder Schwelli vershen" und dem Mühlibach " eine Breite von siebenhalben währschaften Schuhen geben" werden. Gefordert wurde vom Landvogt ferner das Abhauen von "Studen und Stöck", damit "solche dem Wasserlauf und auch dem Fischen der Müller zur Winterszeit nicht hinderlich seien" und schliesslich die "Abstechung des windshalb am Bach sich befindenden Grienkopfs" in der Gegend der heutigen Stegmatt, wo sich der Bach damals (wie einem Plan der Kilchhöri Lyss aus dem Jahre 1804 zu entnehmen ist) westwärts wandte und sich dann einige Steinwürfe weiter bachabwärts im Gebiet des heutigen unteren Aareweg's, also einige hundert Meter oberhalb der heutigen Einmündung in die alte Aare ergoss.

Jahrhundertelang mühten sich die Dorfbewohner von Lyss im "Gmeinwerch" mit den immer wiederkehrenden Heimsuchungen des Lyssbachs ab. Einen soliden Schutz gegen die Hochwasserfluten des Baches brachte indessen erst die Lyssbachkorrektion, die in den Jahren 1910 - 1915 zwischen Mühleplatz und Bielstrasse durchgeführt wurde. In den Nachkriegsjahren setzte man die Begradigung, Vertiefung und Verbauung bis in den Schachen hinunter fort und im Winter 1923/24 schloss man die erste Korrektionsetappe mit der Strecke Mühleplatz- Lehn ab. Ende der sechziger Jahre wurden die Ufer in der Schönau verstärkt und ein Damm aufgeschüttet, der die Fabrikation des Industrierings wirksam zu schützen vermag.

Während vieler Jahrzehnte fristete der Lyssbach nach seiner Korrektion ein eher trostloses Dasein, floss er doch reichlich verschmutzt zwischen mächtigen Schutzmauern durch den Dorfkern von Lyss. Mit dem Bau der Abwasserreinigungsanlage und dem Anschluss der meisten Gebäude an das Kanalisationsnetz erwachte der Lyssbach seit Mitte der sechziger Jahre indessen zusehends zu neuem Leben. Heute tummeln sich in seinem klaren Wasser wieder pfeilschnelle Forellen, am Ufer lassen sich stellenweise Wildentenfamilien nieder und schliesslich erfreuen vereinzelte Schilfbestände den geruhsamen Spaziergänger - jene Schilfbestände, die wohl jahrhundertelang das Gesicht des Lyssbachs kennzeichneten, als er noch die "Lebensader" im ursprünglichen Sinne des Wortes war.

Max Gribi