von unserer Landschaft
Eine Fusswanderung in der Umgebung unseres Dorfes bietet uns die Möglichkeit, unsere Landschaft, ihre Formen und ihren Aufbau kennenzulernen: im Nordwesten die ausgedehnte Aareebene mit dem Jensberg, hinter dem die blauen Ketten des Juras herübergrüssen, und den sanft geschwungenen Hügelkranz im Südosten unserer Ortschaft. Der Ausblick etwa von der Kreuzhöhe hinüber zum Dreihubel, zur Rossi, zum Baggul oder zum Hutti und Richtung Eigenacker zeigt uns das ruhige, ganz und gar unspektakuläre Bild einer Grenz- oder Uebergangslandschaft zwischen Seelandebene und Hügelzone, die sich in ähnlicher Weise vom Waadtland her bis gegen Solothurn erstreckt.
Das Fundament unserer Landschaft bilden die Gesteinsschichten der Molasse, die vor vielen Millionen Jahren in weiten Teilen des Mittellandes im Molassemeer abgelagert und später während der Alpenfaltung wellenförmig zusammengestaucht wurden. ln der Umgebung unseres Dorfes treffen wir auf die Ablagerungen der unteren Süsswassermolasse. Der aufmerksame Beobachter stösst auf diese Sandstein- und Mergelschichten etwa bei der «Brauerei››, am Kilchhübeli, bei der Bahnbrücke an der Busswilstrasse oder am Ufer des Lyssbachs in der Gegend des Buchzopfens. Die Lage der Gesteinsschichten lässt erkennen, dass das heutige Flachland zwischen dem Hügelkranz bei Lyss und dem Jensberg einstmals von einem mächtigen Molassegewölbe überdeckt gewesen sein muss, das im Laufe der Erdgeschichte durch mannigfaltige Kräfte – Verformung während der Alpenfaltung, Bewegungen der Erdrinde, Verwitterung, Gletscherarbeit - zerstört, ausgeräumt und mehr oder weniger ausgeebnet wurde.
Gewaltige Kräfte, die das Bild der damaligen Landschaft im Laufe der Zeit grundlegend veränderten, traten vor etwa 1,5 Millionen Jahren zur Zeit der vier Eiszeiten auf. Aus Gründen, die bis heute noch nicht restlos geklärt sind, lag damals die durchschnittliche Temperatur etwa 10 – 15 ° tiefer als heute, so dass die Alpengletscher riesenhaft anwuchsen und sich bis weit ins Mittelland erstreckten. Deutlichste Spuren hinterliess dabei in unserer Gegend die letzte Vergletscherungszeit (Würmeiszeit). Der Rhonegletscher bedeckte auch unser Gebiet mit seinen oft mehreren hundert Meter mächtigen Eismassen, die sich vom obersten Rhonetal über den heutigen Genfer-, Neuenburger- und Bielersee bis in die Gegend von Wangen an der Aare ausdehnten. lm klimatisch bedingten Wechselspiel von Vorstoss- und Rückzugsbewegung talte der Rhonegletscher die Molasseschichten auf weiten Strecken aus, wobei die weicheren Gesteinsschichten durch die Eismassen gleichsam weggehobelt wurden. Das gewaltige Ausmass dieser Ausräumungsarbeit lässt sich etwa daran ermessen, dass die aus härteren Gesteinsschichten bestehenden Hügelrücken des Jensberges oder des Dotzigenberges vor der eiszeitlichen Vergletscherung Teile des Molasse-Talbodens waren.
Andererseits verfrachtete der Rhonegletscher bei seinen Vorstössen aus dem Alpengebiet riesige Schottermengen in unsere Gegend, überdeckte damit den zuvor geschaffenen Molassetrog und füllte ihn immer mehr auf. Hält man sich die viele Dutzend Meter hohen Schotterschichten der Kiesgrube Bangerter oder der ehemaligen Gemeindegrube vor Augen, dann lässt sich das Ausmass der gewaltigen Transportarbeit des eiszeitlichen Rhonegletschers noch heute erahnen, Zeugen der damaligen Gletscherarbeit sind aber auch die Grundmoränenablagerungen auf unsern Hügelrücken - mit Lehm vermischte Gesteinstrümmer, die den fruchtbaren Untergrund des landwirtschaftlich genutzten Bodens bilden - , die muschelförmigen Drumlins an der Strasse Lyss-Büetigen oberhalb des Dorfes Busswil und die Findlinge, die zu den augenfälligsten und bekanntesten Spuren der eiszeitlichen Ablagerungen zählen.
Auch auf dem Gemeindegebiet von Lyss stiess man, vor allem im Kreuzwald, auf derartige, meistens in der lehmigen Grundmoräne eingelagerte erratische Blöcke. Einer dieser Findlinge, ein Vallorcine-Konglomerat (nagelfluhartiges Gestein aus dem schweizerisch-französischen Grenzgebiet im Unterwallis) befindet sich beim Waldhaus. Ursprünglich im Wallis beheimatet waren auch zwei Findlinge, die laut Angaben von Hans Ris, alt Verwalter der Gemeindebetriebe, in der ehemaligen Gemeindekiesgrube entdeckt und dort in der Nähe der alten Transformatorenstation aufgestellt wurden. Drei weitere Findlinge, seinerzeit ebenfalls auf der Kreuzhöhe gefunden _ ein heller Granitblock aus dem Montblanc- oder Grimselgebiet und zwei Chloritgneise, wahrscheinlich aus der St. Bernharddecke im Mittelwallis stammend - fanden bei der Stegmattschulanlage einen neuen Standort. Rätselhaftester Findling auf Lysser Gemeindegebiet ist zweifellos der «Ernst-Ris-Gedenkstein››, der unterhalb der Wasserfälle des Löribachs im Winigraben gefunden und später in mühevoller Arbeit an seinen heutigen Standort im Baggulwald transportiert wurde. Auf seiner Oberfläche sind schalenartige, künstlich angebrachte Vertiefungen zu erkennen; es handelt sich bei diesem Findling demnach um einen sogenannten «Schalenstein››. Die Bedeutung der Schalen ist auch heute noch ungeklärt und umstritten. Handelt es sich um Opferschalen, um Gräber- oder Siedlungsplane, um Sternkarten oder ganz einfach um Eigentumsmarken? Aehnliche Schalensteine, zum Teil von viel grösseren Ausmassen, trifft man auch in der weiteren Umgebung unseres Dorfes, beispielsweise auf dem Dotzigenberg, in der Umgebung von Biel, bei Lüterswil im Bucheggberg oder bei Grenchen.
Während das voreiszeitliche Flussnetz unserer Gegend wegen der landschaftsverändernden Arbeit der eiszeitlichen Gletscher bis heute noch kaum erforscht werden konnte, lassen sich die zwischeneiszeitlichen Flussläufe aufgrund von geologischen Forschungen recht genau lokalisieren. Westlich von Lyss vereinigten sich in der grossen Zwischeneiszeit Saane und Broye. Die aus Schmelzwasser des Aare- und Rhonegletschers entstandene Aare wiederum durchbrach die Molasseschichten zwischen Frienisberg und Rapperswiler-Plateau, schuf so das Lyssbachtal und mündete anschliessend in der Gegend unseres Dorfes in den gemeinsamen Flusslauf von Saane und Broye. Weitere Veränderungen erlebten die Flussläufe nach den Vergletscherungszeiten, wobei die Aare gelegentlich westwärts in den Neuenburgersee floss.
Vor dem endgültigen Zurückweichen in seine Nährzone erlebte der Rhonegletscher eine längere Zeit des Stillstandes, während der er in der Gegend von Solothurn einen halbrunden Endmoränenwall aufschüttete, der später, beim raschen Rückzug der Eismassen, das Wasser des schmelzenden Eises und der Flüsse aufstaute und so zur Bildung des «Solothurnersees›› führte, der auch unsere Gegend bedeckte und sich mit einem Seitenarm durch das Lyssbachtal bis gegen Schüpfen erstreckte. Zur Zeit seiner grössten Ausdehnung breiteten sich die Wassermassen dieses Schmelzwassersees bis über den Murten- und Neuenburgersee hinaus in westlicher Richtung aus.
War das Gesicht unserer Landschaft im erdgeschichtlichen Ablauf bisher vor allem durch die Molasseschichten, die Arbeit der eiszeltlichen Gletscher und die Ablagerungen auf dem Grund des Solothurnersees bestimmt worden, so traten nach den Eiszeiten die Flüsse als landschaftsformende Kräfte in den Vordergrund. Der flache Schuttkegel der Aare verfächerte sich wegen der unablässigen Geschiebezufuhr aus den Alpen immer mehr und erstreckte sich schliesslich von Aarberg bis in die Gegend von Büren. Die letzten, nur noch seichten Wasserflächen des Solothurnersees wurden durch Kies, Sand und Schlamm des Flusses allmählich aufgefüllt. Die Schwemmlandschaft näherte sich in jahrtausendelanger Umwandlung immer mehr dem Landschaftsbild, wie es sich noch vor der Ersten Juragewässerkorrektion darbot. ln stark gewundenem und streckenweise vielfach verzweigtem Lauf suchte sich das Wasser der Aare von Aarberg her einen Weg in seinem eigenen Geschiebe. Bei Hochwasser schütteten die Wasserfluten das bisher benutzte Flussbett teilweise mit neuem Geschiebe auf, versperrten sich so den bisherigen Abfluss, ergossen sich über die Ufer hinaus in die Ebene und überfluteten Aecker und Wiesen mit Grien, Sand und Schlamm. So bot die Aare in der strichweise versumpften Landschaft das Bild eines wirren Netzes von verschlungenen Flussläufen, wurmartig ins Land ausgestreckten Altwasserarmen, lnseln und Halbinseln, wie dies auf alten Landkarten noch vor hundert Jahren zum Ausdruck kam. Eindrücklichen Spuren der ehemaligen Aareläufe begegnet der aufmerksame Wanderer noch heute in den Auenwäldern der alten Aare, wo er an verschiedenen Stellen auf ehemalige Flussufer und auf «Giessen›› stösst, die als Reststücke ehemaliger Flussläufe unsere Landschaft beleben.
Von den verheerenden Ueberschwemmungen und Wasserkatastrophen hingegen, die nicht zuletzt aut den Rückstau des Aarewassers durch den stark wachsenden Schuttkegel der Emme bei Solothurn zurückzuführen waren, finden wir heute keine Spuren mehr. Die im letzten Jahrhundert durchgeführte Juragewässerkorrektion bereitete der Wassernot im Seeland ein Ende und liess die ehemals gefährliche Aare im Gebiet unseres Dorfes zum idyllischen Wasserlauf werden, der mit seinem Auenwald heute vor allem dem Naturfreund und Erholungssuchenden immer wieder neue Schönheiten bietet.
Max Gribi