die alte Kirche

Nach der Einweihung der neuen reformierten Kirche im Jahre 1935 geriet die alte Kirche, die Dorfkirche von Lyss, in der sich jahrhundertelang das kirchliche Leben abgespielt hatte, allmählich in die Randbezirke des aktuellen Geschehens. Einige weitsichtige Persönlichkeiten der Ortschaft allerdings erkannten bereits im damaligen Zeitpunkt sowohl Gefahren als auch Chancen für das leerstehende Gotteshaus: Am 4. März 1936 gründeten sie auf Initiative von Notar Oskar Möri die «Gesellschaft zur Pflege der Kunst und der Heimatgeschichte››, die in ihrem Zweckartikel die «Unterstützung der Bestrebungen für die würdige Erhaltung der alten Kirche und des Umgebungsbildes›› als vordringliche Aufgabe einstufte und am 15. Juni des gleichen Jahres mit der Kirchgemeinde einen Dienstbarkeitsvertrag abschloss, um die alte Kirche und ihre Umgebung «rechtzeitig mit einem würdigen, der Allgemeinheit dienenden, ordentlichen Zweck und Gebrauch dauernd» zu sichern. Als stummer, scheinbar wertloser Zeuge erlebte die ehemalige Johanniskirche bald einmal die entbehrungsreichen Jahre des Zweiten Weltkrieges, in deren Verlauf sie geflüchteten Soldaten ausländischer Heere Obdach bot, ln späteren Jahren diente das allmählich zerfallende Gotteshaus, über dessen Zukunft sich niemand Gedanken zu machen schien, als Versammlungsraum der katholischen Kirchgemeinde.

Wohl machten Einsichtige in der Tagespresse und in Zeitschriften gelegentlich auf den Zustand des alten Gotteshauses aufmerksam; das Verständnis für die Erhaltung der jahrhundertealten kirchlichen Kultstätte aber war in der breiten Oeffentlichkeit keineswegs vorhanden. Erst gegen Ende des vorletzten Jahrzehnts, im Oktober 1957, überprüfte Prof. Dr. Paul Hofer (Bern/Lausanne) das baufällige Gotteshaus im Auftrag des Kirchgemeinderates auf seinen baulichen und historischen Wert hin. Zu Beginn der sechziger Jahre nahm der Gedanke einer Restauration der alten Kirche hingegen konkrete Gestalt an, nicht zuletzt gefördert durch die Entdeckung eines Dokumentes aus dem Jahr 1908, wonach die alte Kirche Bestandteil des Verzeichnisses der Kunstdenkmäler des Kantons Bern sei und damit erhalten bleiben müsse. Gestützt auf diesen Archivfund, ein neues Gutachten von Prof. Dr. Paul Hofer und einen Kostenvoranschlag des Berner Architekten Ulrich lndermühle stimmte die Kirchgemeindeversammlung nach vehement geführten Auseinandersetzungen Mitte der sechziger Jahre einem Konservierungs- und Restaurationsprojekt im zweiten Anlauf zu. Ende Februar 1966 begann man mit der Aussenrenovation des Gebäudes.

Schon beim Wegschlagen des Aussenverputzes kamen unerwartete Spuren aus der Vergangenheit ans Tageslicht, stiess man doch auf ehemalige, in späteren Zeiten zugemauerte Rundbogenfenster, auf grossflächige Stellen mit romanischem Mauerverputz, auf einen vollständig erhaltenen Steinbogen auf Bodenhöhe, auf die tiefer liegende Türschwelle eines früheren Kirchenbaus und auf ein quer zur südlichen Kirchenmauer verlaufendes Mauerstück. Fachleute schlossen aus diesen unerwarteten Funden auf fünf verschiedene Bauepochen der alten Kirche: eine ursprüngliche romanische Anlage, eine frühgotische Erweiterung des Gotteshauses, eine spätere Epoche des Turmbaus, den Umbau der ursprünglich runden Apsis in Eckform und schliesslich die Barockisierung des Gotteshauses im 17.Jahrhundert. Angesichts dieser ebenso überraschenden wie aufschlussreichen Funde drängte sich eine weiterführende Erforschung des Gotteshauses auf. Dank fachkundig ausgeführten Grabungen und photogrammetrischen Aufnahmen im Innern der alten Kirche gelang es den Archäologen und Kunsthistorikern unter der Leitung von Dr. H. R. Sennhauser (Zurzach), weitere Geheimnisse der ehemaligen Johanniskirche zu lüften.

Mehrere Grabgruben unter dem ursprünglichen Kirchenboden belegten eine vorkirchliche Friedhofanlage aus spätantik-frühchristlicher Zeit, auf der im 7. Jahrhundert als erstes Gotteshaus zu Ehren eines privaten Kirchenstitters eine sogenannte «Eigenkirche›› mit runder Apsis erbaut wurde. Das Senkgrab des Kirchenstifters wurde in das Fundamentmauerwerk des ersten Kirchenbaus einbezogen und bei allen späteren Umbauten geschont. Eine bogenüberwölbte, in der Südwand der Kirche eingelassene Arkosolnische, die im 15. Jahrhundert mit der Figur eines Feiertagschristus ausgeschmückt wurde, kennzeichnet die Lage dieses Grabes. Der Feiertagschristus stellt eine ikonographische Seltenheit dar, kennt man doch in der Schweiz bisher nur acht derartige Feiertagsmotive, die alle zwischen der Mitte des 14, Jahrhunderts und der Reformation entstanden sind.

Mit dem Feiertagschristus ermahnte die Kirche in der damaligen Zeit die des Lesens und Schreibens unkundigen Gläubigen zur Heiligung des Sonntags und der kirchlichen Feste. Die Christusfigur ist deshalb von Werkzeugen und Gegenständen wie Sichel, Pflugschar, Sense, Dreschflegel, Rechen, Joch, Hammer, Rebmesser, Schwert, Mühlrad, Kelle und Schnabelschuh umgeben, die man an den geheiligten Tagen weder benutzen noch herstellen durfte, ohne am Leiden Christi mitschuldig zu werden. Die bei der Untersuchung des Mauerwerks auf der Empore der alten Kirche entdeckten Wandmalereien stammen aus der vierten Bauepoche des Gebäudes. Die aufgefundenen Reste von Heiligendarstellungen dürften dem 14.Jahrhundert zuzuordnen sein.

Um das 1.Jahrtausend, dies lassen die Ausgrabungen erkennen, wurde das ursprüngliche Gotteshaus auf der Südseite durch eine Sakristei und auf der Nordseite durch einen Turmbau erweitert. Auf das 12. oder 13. Jahrhundert geht der Bau eines rechteckigen Chors anstelle der runden Apsis zurück. ln späterer Zeit wurde das Kirchenschiff verlängert und vergrössert. Eine vierte Umbauphase brachte in der Barockzeit den Bau des bis heute erhalten gebliebenen polygonalen Chors. Wissenschaftliche Untersuchungen liessen ferner deutlich werden, dass die alte Kirche schon in vorgotischer Zeit dreimal umgebaut und während der beiden ersten Bauperioden von Bränden heimgesucht wurde.

Nach der glücklich abgeschlossenen Gesamtrenovation der alten Johanniskirche, die sich im Laufe der Restaurierungsarbeiten als historisch einzigartiger Zeuge aus der Vergangenheit der Ortschaft Lyss entpuppte, darf in Dankbarkeit des Mutes und der Ueberzeugung all jener Bürgerinnen und Bürger gedacht werden, die sich über Jahre hinweg und wider gewisse modernistische Strömungen des Zeitgeists hinweg, unbeirrbar hinter die Erhaltung und Restaurierung jener alten Kirche gestellt haben, die heute als kultureller Mittelpunkt der Gemeinschaft der Dorfbevölkerung dient wie jahrhundertelang zuvor.