Industriering
Der Name Lyss ist in unserer Zeit untrennbar mit dem «Industriering›› verbunden, der im Laufe der letzten zwanzig Jahre geradezu zu einem Marken- oder Wahrzeichen unserer Ortschaft geworden ist. im ganzen Kanton Bern und weit über seine Grenzen hinaus ist der lndustriering, d. h. das lndustriegebiet «Schachen››, zu einem Musterbeispiel weitsichtiger kommunaler lndustrieplanung geworden, das schrittweise verwirklicht wurde, lange bevor beispielsweise die ideen der Regionalplanung oder der kantonalen Wirtschaftsförderung Fuss zu fassen begannen. Tatsächlich stellte die Schaffung einer neuen Industriezone im Nordosten des gewachsenen Siedlungsgebiets, ausserhalb der Wohngebiete gelegen, eine weitsichtige planerische Pioniertat dar, die grosse Beachtung fand und auch weitherum grosses Interesse auslöste.
Wo wir heute auf moderne Fabrikbauten, Werkstätten, Lagerhallen, Bürogebäude, übersichtliche Strassen, Eisenbahngeleise und gepflegte Grünanlagen stossen, oft geschmückt mit Fahnen aus aller Herren Länder - da dehnten sich noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts grosse Auenwälder aus. Die gegenseitige Lage von ehemaligem Auenwaldgebiet (Zustand 1916) und Gebäuden unserer Zeit verdeutlicht der nachfolgende Kartenausschnitt. in den Anbauschlachten des Ersten und Zweiten Weltkrieges wurden grosse Teile dieses Gebiets zumeist in zäher Handarbeit gerodet und in bescheidenem Ausmass landwirtschaftlich genutzt.
Kaum einer der vielen hundert Arbeiter und Angestellten, deren Arbeitsplatz sich heute in einem Fabrikations-, Gewerbe- oder Handelsbetrieb des lndustrierings befindet, vergegenwärtigt sich wohl, dass noch vor wenigen Jahrzehnten magere Grienböden, karge Kartoffeläcker und vereinzelte Schrebergärten hier das Gesicht der Landschaft prägten. Der Boden befand sich damals etwa zu einem Drittel im Besitz der Gemeinde Lyss; zu zwei Dritteln war er im Eigentum von Burgergemeinden und Privatbesitzern der Gemeinden Kappelen und Worben. Die Gemeindegrenze verlief, wie unser erster Kartenausschnitt zeigt, quer durch das ehemalige Auenwaldgebiet und die in den Kriegsjahren gerodeten Anbauflächen.
ln den vierziger Jahren, nachdem Dr. Ernst Siegfried 1946 das Amt des Gemeindepräsidenten angetreten hatte, stellte man in der Gemeindebehörde erstmals Ueberlegungen an, die eine zielgerichtete Industrialisierung zum Gegenstand hatten. Lm Vordergrund der damaligen Beratungen stand die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen für die Ortschaft Lyss und die Region, der Kampf gegen eine mögliche Entwicklung zur „Schlafgemeinde“ zwischen den lndustriezentren Bern und Biel, die Förderung der bestehenden Gewerbe-, Handels- und Dienstleistungsbetriebe und die Hebung der Steuerkraft. lm Zeichen dieser allgemeinen Zielsetzungen führte der Gemeinderat unter der initiativen und dynamischen Leitung von Dr. Ernst Siegfried, der als der «Vater des lndustrierings» in die Geschichte unseres Dorfes eingegangen ist, ein Jahr nach Kriegsende erste Verhandlungen mit den SBB, in deren Verlauf der Bau eines lndustriestammgeleises erörtert wurde. Weil sich dabei zeigte, dass die Errichtung eines Stammgeleises allein für die Erschliessung der im Besitz der Einwohnergemeinde Lyss befindlichen Landflächen finanziell nicht tragbar und zu verantworten war, kam der Gemeinderat zur Auffassung, mit einem allfälligen lndustriegeleisebau müsse eine weit grössere Fläche erschlossen werden. Diese Ueberlegung führte 1947 zu einer ersten Offerte der Gemeinde Lyss an die Burgergemeinde Kappelen zwecks Erwerb des «Fälligriens›› im untersten Teil des heutigen lndustrierings. Die Höhe des Lysser Angebots wurde in Kappelen zwar grundsätzlich anerkannt, dann aber doch abgelehnt, weil man sich in der Nachbargemeinde des Wertes der fraglichen Grundstücke inzwischen auch bewusst geworden war.
Eine Wende in den während längerer Zeit festgefahrenen Verhandlungen brachte der Umstand, dass 1953 die ortsansässige Firma Bangerter AG von der Gemeinde Lyss Boden und Kiesausbeutungsrechte erwarb. Der Erlös aus diesen Verkäufen ermöglichte es der Gemeinde Lyss, in Kappelen und Worben zwei bäuerliche Heimwesen zu erwerben, deren Flächen in die damals beschlossenen Güterzusammenlegungen der beiden Nachbargemeinden eingeworfen werden konnten. Diese neue Ausgangslage versetzte die Gemeinde Lyss in die Lage, den Burgergemeinden Kappelen und Worben sowie zahlreichen privaten Landeigentümern landwirtschaftlich wertvollen Boden in Siedlungsnähe gegen wenig ertragreichen Grienboden im heutigen lndustriering zum Tausch anzubieten. Nicht weniger als vierundzwanzig notarielle Verträge waren in der Folge nötig, um die unter diesen Vorzeichen zustande gekommenen Landabtauschgeschätte rechtlich abzusichern. lm Anschluss an diese Vertragsabschlüsse, deren Genehmigung durch die Lysser Stimmbürgerschaft vorbehalten blieb, nahmen die Lysser Behörden mit den beiden Nachbargemeinden Verhandlungen auf, welche die Eingemeindung der getauschten Landflächen und weiterer Grundstücke im Grien beidseits der alten Aare zum Gegenstand hatten.
Bei der Gemeinde Kappelen handelte es sich um eine Fläche von rund 240000 m², in
Worben hingegen stand eine Fläche von etwa 100000 m² zur Diskussion. Da die beiden Burgergemeinden und deren Landpächter mit den angebotenen Bedingungen der Gemeinde Lyss einverstanden waren, kam es in beiden Gemeinden zu zustimmenden Volksentscheiden.
Am 23. Juli 1955 hiess eine Versammlung der Einwohnergemeinde Worben die Ausgemeindung von rund 96 500 m² an die Einwohnergemeinde Lyss mit 28:13 Stimmen gut. An einer ausserordentlichen Einwohnergemeindeversammlung vom 3. Dezember 1955 entschieden sich die Bürger von Kappelen mit 70:17 Stimmen im gleichen Sinne. Zwei Wochen später, am 17./18. Dezember 1955, genehmigte schliesslich auch die Lysser Bürgerschaft bei einer Stimmbeteiligung von 43,2 % mit 575:38 Stimmen sämtliche Tausch-, Kaufs- und Verkaufsverträge einschliesslich eines Kreditbetrages, der nach gegenseitiger Verrechnung der zahlreichen Landhandelsgeschäfte noch rund 160‘000 Franken ausmachte. Mit dem Erwerb eines Heimwesens in der Gemeinde Busswil konnte schliesslich 1961 in einem Abtauschverfahren der Schlussstrich unter die Landbeschaffung für den lndustriering gezogen werden.
Die im zweiten Kartenausschnitt dargestellte Veränderung der Gemeindegrenzen zwischen den Gemeinden Lyss, Kappelen und Worben musste anschliessend auch vom Grossen Rat des Kantons Bern genehmigt werden. Eine parlamentarische Kommission legte dem Rat ein «Dekret über die Zuteilung von Gebietsteilen der Einwohnergemeinden Kappelen und Worben an die Einwohnergemeinde Lyss» vor, das am 20. November 1957 gutgeheissen und auf den 1. Januar 1958 in Kraft gesetzt wurde. Als neue Grenze im Nordwesten der Ortschaft Lyss wurde darin die heutige Autostrasse Biel-Lyss festgelegt.
Umfang und Arbeitsfortschritt bei der Verwirklichung des lndustrierings belegen allein
schon die in den ersten Jahren an Urnenabstimmungen oder an Gemeindeversammlungen bewilligten Kredite:
1956 800 m Strasse einschliesslich Sekundärkanalisation und Strassenentwässerung Fr. 520000.-
1957 600 m Strasse (Teilausbau) Fr. 59 500.-
1959 300 m Strasse (Teilausbau) Fr. 30 000.-
1960 300 m Strasse und Trottoir (Teilausbau) Fr. 70 000.-
1964 Vollausbau einschliesslich der Anschlussstrassenstücke Dammweg,
Giessenweg und Eschenweg und deren Ausbau Fr. 800000.-
Nachdem alle baulichen Vorkehrungen für die Erschliessung des neuen industrie-
gebietes abgeschlossen waren, ergaben sich folgende Anlagekosten (gerundete Zahlen):
Strassen- und lndustriestammgeleise Fr. 2 295 000.-
Strassenbeleuchtung Fr. 92 000.-
Kanalisation Fr. 450 000.-
Lyssbachverlegung und -verbauung Fr. 425 000.-
An die Gesamtkosten von rund 3‘260 000 Franken leisteten die neu angesiedelten
Industrie-, Gewerbe- und Handelsbetriebe erhebliche Beitrage, so dass sich die der
Gemeinde Lyss verbleibenden Erschliessungskosten (Stand 1975) auf rund 1‘640‘000 Franken bezifferten.
Der Umstand, dass sich nach Abschluss der komplizierten Landhandelsgeschäfte die
gesamte Fläche des lndustrierings im Besitz der Gemeinde Lyss befand, wirkte sich bei der Verhandlung mit interessierten lndustriebetrieben von Anfang an äusserst günstig aus, indem einerseits keine Baulandurnlegungen durchgeführt werden mussten und anderseits die Gesamtplanung für die Erschliessung und Gestaltung dieser lndustriezone ausschliesslich nach den planerischen Vorstellungen der zuständigen Gemeindebehörde verwirklicht werden konnte. Dies zeigte sich bereits kurze Zeit nach der grundsätzlichen Zustimmung der Bürgerschaft anlässlich der entscheidenden Urnenabstimmung vom Dezember 1955.
Ab 1956 setzte der Verkauf von Bauland oder die Einräumung von Baurechten ein, wie die folgende Zusammenstellung zeigt:
1956 Erster Landverkauf an die Giesserei und Maschinenfabrik Osterwalder AG, die vorher in Biel ansässig gewesen war
1957 Landverkäufe an die ortsansässige Stahlhandelsfirma Frauchiger-Nigst AG und die Kunststoffabrik Hera AG (Nidau)
1960 Landverkäufe an die USEGO (Bau eines Regionallagers) und an die Reisswollfabrik Herzog (Lyss)
1961 Landverkäufe an die GZM (Genossenschaft Zentralschweizerischer Metzgermeister) für die Erstellung eines Extraktionswerks und an Hermann Andres (Lyss), Anhängerbau
1962 Abgabe von Land im Baurecht an die Baumaschinenfirma Eisenring und Sohn (Wichtrach) Landverkäufe an die Simca AG und an die Feintool AG, Feinstanzpressen, die ihre Produktion ursprünglich in Biberist aufgenommen hatte
1963 Zweiter Landverkauf an Hermann Andres, Anhängerbau. Baurechtsvertrag mit der Volvo SA (30000 m2). Landtausch mit der ortsansässigen Firma Lastfahrzeug AG
1964 Abgabe von Bauterrain an die Lysser-Firma lalag, Ventilbau
1966 Verkauf von Land an den Zweckverband ARA für den Bau einer regionalen Kläranlage sowie an die Firma Maveg AG (Biel), Baumaschinen. Rückkauf des Terrains der Simca AG
1967 Zweiter Baurechtsvertrag mit der Volvo SA (11 200 m²)
1970 Dritter Baurechtsvertrag mit der Volvo SA (10 000 m²)
1971 Vierter Baurechtsvertrag mit der Volvo SA (11 145 m²)
1972 Weitere Landabgabe an die lalag
1973 Abgabe von weiterem Land an die Feintool AG und die Maveg AG.
Es liegt auf der Hand, dass der Auf- und Ausbau des etwa 400 000 m1 grossen industrierings, der heute rund 1200 Arbeitsplätze aufweist, die Entwicklung der Ortschaft Lyss in den letzten zwei Jahrzehnten entscheidend beeinflusst hat, sei es auf dem Gebiet der Bevölkerungszahl, des Wohnungsbaus, der wirtschaftlichen Entwicklung im allgemeinen oder der öffentlichen Bautätigkeit (Kindergärten, Sohulhäuser, Alterssiedlung, Strassen- und Kanalisationsbauten usw.) Hatten im letzten Jahrhundert der Eisenbahnbau und die Korrektion der Juragewässer als kräftige impulse auf die Entwicklung der Ortschaft gewirkt, so war es in unserem Jahrhundert die pianmässige Erschliessung des industriegebiets „Schachen“, auf die im wesentlichen das Aufrücken unseres Dorfes zur zweitgrössten Ortschaft des Seelandes und zum wichtigsten lndustriezentrum neben der Stadt Biel zurückzuführen ist. Die Landreserven, über die heute die Gemeinde Lyss im lndustriering noch verfügt, ist nach der Ansiedlung der oben erwähnten Betriebe auf einen kleinen Rest zusammengeschmolzen. Aus diesem Grunde wurde im November 1979 die Erschliessung eines
zweiten lndustriegebietes im «Grien››, zwischen alter Aare und Bahnlinie
Lyss-Aarberg-Lausanne, im Westen der Ortschaft in Angriff genommen, das zukünftig schrittweise ausgebaut werden soll. Ob auch diese neue lndustriezone in so unerwartet kurzer Zeit überbaut sein wird, wie dies beim „lndustriering“ im Schachen der Fall war, muss angesichts der allgemeinen Wirtschaftslage in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre allerdings bezweifelt werden.
Max Gribi