600 Jahre bernisch
Abschrift von Separat Druck aus dem Geschäftsbericht 1976 der Spar + Leihkasse Lyss von Max Gribi - Dezember 2018 in Memoriam
Lyss 600 Jahre bernisch 1377 - 1977
Als erstes Volk der Geschichte, das in unserer Gegend einen Namen trug, treffen wir in der Eisenzeit auf die kriegerischen Helvetier, einen Stamm der Kelten, der von Norden her ins schweizerische Mittelland eindrang. Die Kelten führten für die Landzuteilung an ihre Hundertschafts- und Zehntschaftsführer erstmals eine genauere Landesvermessung durch. Als Längeneinheit diente ihnen die Wegstunde oder „leuga“, von der Geschichtsforscher unsere Flurbezeichnung „Leuern“ ableiten, indem sie darauf hinweisen, dass im 4. Jahrhundert v. Chr. ein Fixpunkt der keltischen Vermessung in Lyss stand. Keltischen Ursprungs ist auch der Ortsname Lyss selbst, der von «lessa›› (Hütte, Stall) stammt. Mit dem Auszug der Helvetier aus unserem Land, der nachfolgenden Niederlage gegen die Römer und der Wiederansiedlung in der ehemaligen Heimat ging die eigentliche Herrschaftszeit der Helvetier zu Ende.
Auch unsere Gegend kam nun für Jahrhunderte unter die Herrschaft der Römer, die in der Nachbarschaft unseres Dorfes, in Petinesca (Studen) auf dem Jensberg, einen wichtigen Stützpunkt ihrer grossen Heer- und Handelsstrasse unterhielten.
Von den germanischen Volksstämmen, die sich in der nachfolgenden Völkerwanderungszeit auf römischem Boden niederliessen, vermochte sich der kriegerische Stamm der Franken am erfolgreichsten durchzusetzen. lm Jahre 502 gliederten die Merowinger, das älteste fränkische Königsgeschlecht, das von den Burgundern besiedelte Gebiet westlich der Aare in ihr Reich ein. lm Jahre 536 fiel sodann das von den Alemannen besetzte Gebiet östlich der Aare und damit auch unsere Gegend an die Merowinger. Nachfolger dieses Königsgeschlechts waren im Frankenreich die Karolinger, deren bedeutendster Vertreter Karl der Grosse (768-814) war, Mit staatsmännischem Weitblick schuf er ein wohlorganisiertes, nach fränkischem Brauch in Gaue unterteiltes Reich, das auch die Gebiete der heutigen Schweiz umfasste. Lyss lag im Aargau des karolingischen Reiches.
Schon vor der Regierungszeit Karls des Grossen hatte sich unter der Frankenherrschaft eine Staats- und Gesellschaftsordnung entwickelt, die später das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben während Jahrhunderten beherrschte: der Feudalismus. Er war gekennzeichnet durch rechtliche und gesellschaftliche Vorrechte, die den weltlichen und geistlichen Grundbesitzern zukamen und beruhte auf dem Lehenswesen. Verwaltungs- und Kriegsdienste wurden schon durch die merowingischen Könige nicht mehr mit Geld, sondern durch Bodenerträgnisse, d. h. Nutzniessung am königlichen Boden in Form eines „Lehens“ abgegolten. Grosse Lehensherren, die ihr Lehen aus der Hand des Königs erhalten hatten (Kronvasallen), verschafften sich ihrerseits eine Gefolgschaft von kriegstüchtigen Untervasallen, indem sie empfangenes Lehen weiter vorgaben. So entwickelte sich allmählich eine Lehenspyramide, an deren Spitze der König stand. ln diese Lehenspyramide wurde in der fränkischen Zeit auch der «Hochadel››eingefügt, der sich seit den Kriegszügen der Völkerwanderungszeit als Gruppe von reichen Grundbesitzern aus der Volksschicht der Freien entwickelt hatte. Der «niedereAdel» (Arntsadel) bildete sich im Laufe der Zeit aus bevorzugten hörigen Gefolgsleuten, die nunmehr als Ministeriale (Dienstmänner) bezeichnet wurden. Wegen dieser Entwicklung gestalteten sich die Herrschaftsverhältnisse einerseits immer unübersichtlicher, andererseits schwächten sie zusehends die Macht der Könige Dies zeigte sich besonders deutlich nach der Regierungszeit Karls des Grossen, der mit seiner Grafschaftsverfassung das wuchernde Gestrüpp des Lehenswesens einzudämmen versucht hatte, indem er Grafen als Beamte einsetzte, die seinem Willen Nachachtung verschafften. Nach seinem Tode setzten es aber die Kronvasallen durch, dass das Lehen erblich wurde, und zwar so, dass der Lehensherr verpflichtet war, ein Lehen beim Tode seines Lehensmannes ungeteilt dessen Erstgeborenem zu verleihen.
Karls Reich zerfiel nach seinem Tode rasch, da sein Sohn, Ludwig der Fromme, sich mehr zu kirchlichem Leben als zu weltlicher Herrschaft hingezogen fühlte. Unter Ludwigs habgierigen und streitsüchtigen Söhnen wurde das Reich im Jahre 843 (Vertrag von Verdun) in drei Teile aufgeteilt. Der älteste Sohn Ludwigs, Lothar, erhielt den mittleren Teil des karolingischen Reiches nebst der Kaiserwürde. Die Ostgrenze dieses Mittelreiches bildete in unserer Gegend die Aare. Da in diesem Reich aber die wichtigste, von alters her benutzte Strasse von Norden nach Süden, der Grosse St. Bernhard, lag, wurde es zum Zankapfel und zerfiel später in verschiedene Teilreiche. Neben Niederburgund (Arelat) am untern Rhonelauf blühte damals in der heutigen Westschweiz das Königreich Hochburgund (Neuburgund) auf. Unser Dorf lag hart an der Grenze Hochburgunds, gehörte aber, da die Aare Grenzfluss zwischen den Reichen war, zum Ostfrankenreich, aus dem später das Deutsche Reich entstand.
in den Aargau dieses Ostfrankenreiches, der um das Jahr 900 von Herzog Burkard l. von Alemannien beherrscht wurde und sich vom Bodensee bis an die Aare erstreckte, fiel der zweite König von Hochburgund, Rudolf ll., ein und besetzte das Gebiet. Bei
Winterthur erlitt er zwar eine Niederlage gegen das herzogliche Heer, doch brachte der Umstand, dass ihm Burkhard seine Tochter, die spätere Königin Bertha, zur Frau gab, einen Gebietsgewinn ein, der sich ungefähr bis an die Reuss erstreckte. Damit kam
auch die Gegend von Lyss unter hochburgundische Herrschaft, allerdings nur vorübergehend, denn nach dem Tod von Königin Bertha fiel das Land zwischen Aare und Reuss über ihren Enkel Rudolf lll. in den Jahren 1032/33 wieder an das Deutsche Reich, das damals von Konrad ll. regiert wurde.
Lyss war in hochburgundischer Zeit Königs- und Krongut. ln einer Urkunde des königlichen Hausklosters St. Maurice aus dem Jahr 1009, in der unsere Ortschafterstmals schriftlich bezeugt ist, wurde der Abtei mit Einwilligung von König Rudolf lll.,
dem Bruder des Abts von St. Maurice, die Anwartschaft auf die Kirche Lyss zugesichert. Königsgüter übernahmen die hochburgundischen Könige von den Karolingern, die diese Güter ihrerseits von den Merowingern in ihren Besitz gebracht hatten. Karl der Grosse hatte entlang den Flüssen und Heerstrassen in bestimmten Abständen befestigte Wirtschaftshöfe anlegen lassen, die als Stützpunkte für die Kultivierung des Landes, als militärische Besammlungsorte und als Verwaltungs- und Gerichtszentren dienten. Noch im 13. Jahrhundert kannte man in Lyss Güter, die den Namen “Sellant“ trugen; sie können wahrscheinlich als „Salland“ eines ehemaligen Königshofes gedeutet werden, d. h. als Land, das vom Könighof aus im Eigenbau bewirtschaftet wurde.
Nach dem Jahr 1000 wurde das in unserer Gegend durch Königin Bertha an Hochburgund gekommene Gebiet als Grafschaft Oltingen bezeichnet. Stammburg der Oltinger war vermutlich die Burg Oltingen auf der Runtigenfluh am Zusammenfluss von Aare und Saane. Als erster Vertreter des Grafenhauses von Oltingen tritt urkundlich um das Jahr 1060 Graf Bucco (Burkard) auf, doch schon im Jahr 1125 vernimmt man letztmals etwas von einem Oltinger Grafen. Nach dem 11. Jahrhundert verschwindet der Name der Grafschaft Oltingen wieder und das Gebiet, das westlich und nördlich durch die Aare, östlich wahrscheinlich durch die Murg-Roth und das Napfgebiet abgegrenzt wurde, erschien nun als Kleinburgund. Das Landgrafenamt in Kleinburgund bekleideten seit den Zeiten der Zähringer die Grafen von Buchegg, die ihr Amt im Jahr 1311 an die Kyburger verloren. Die Güter der Herren von Seedorf, Aarberg und Strassberg (Büren) unterstanden rechtlich nicht dem Grafen von Buchegg, sondern (im Falle der Herrschaften Aarberg und Strassberg) den Grafen von Neuenburg, da sie deren Eigentum waren, obwohl sie in der benachbarten Landgrafschaft Kleinburgund lagen.
Auf dem linken Aareufer trifft man im Jahr 965 auf eine Grafschaft Bargen, die später als Aarburg und bezeichnet wird. Nach dem Tod des letzten hochburgundischen Königs, Rudolf lll., kam sie 1032 zusammen mit ganz Burgund an das Deutsche Reich. Ueber die Herrschaft Bargen gebot im 11. Jahrhundert Ulrich von Fenis in gräflicher Eigenschaft, der Ahnherr der Grafen von Neuenburg. Seine Stammburg war die «Hasenburg›› bei Vinelz (Fenis). Auf welchen Wegen das Grafenhaus Fenis, das seinen Sitz später nach Neuenburg verlegte, zum deutschsprachigen Teil seines Herrschaftsgebietes kam, das auch die Gegend von Lyss umfasste, ist im Dunkel der Geschichte verborgen. Unsichere Spuren weisen immerhin auf die Grafen von Oltingen und auf die Herzöge von Zähringen die seit 1127 die Rektoratsgewalt über das ehemalige Hochburgund ausübten und damit als Stellvertreter des deutschen Königs amtierten.
Kurze Zeit nach dem Jahr 1215 teilten die Grafen von Neuenburg ihren Besitz unter sich auf. Ulrich lll. von Neuenburg (1182~1225) wurden nebst dem Grafentitel der Grossteil der Ländereien und Güter zugesprochen, unter anderem die deutschsprachigen Gebiete, die bei weiteren Teilungen (zwischen 1225 und 1246) in die Linien Nidau, Strassberg (Büren) und Aarberg/Valangin aufgespalten wurden. Ulrich der lll. war der Stifter der urkundlich 1236 erstmals erwähnten Stadt Aarberg, sein Sohn Ulrich von Aarberg-Strassberg und Arconciel (1225 bis 1276) andererseits stellte der Stadt am 1. Mai 1271 eine Handfeste (Stadtordnung) aus, in welcher der noch im Ausbau befindlichen Stadt beträchtliche Freiheiten und Rechte gewährt wurden.
Wilhelm der l., der älteste Sohn Ulrichs, herrschte als erster Vertreter des Hauses Aarberg nur noch über die Herrschaft Aarberg, da sein Bruder Johann die Herrschaft Valangin übernahm. Er wurde so zum eigentlichen Stammvater der Dynastie Aarberg, deren Herrschaft allerdings mit seinem Sohn Peter (urkundlich erwähnt in den Jahren 1319-1367) bereits erlosch. Trotz seines kleinen Herrschaftsgebiets, das neben der Stadt Aarberg nur noch die Dörfer Lyss, Busswil und Kappelen umfasste, nannte er sich «her Wilhelm, graf ze Arberch››. ln Uebereinstimmung mit den neuen, aus der neuenburgischen Teilung hervorgegangenen Herrschern von Strassberg und Valangin, führte er den Grafentitel unrechtmässig, da die landgräfliche Würde zuvor bereits an die Grafen von Nidau übergegangen war und die neuen Herren nur noch über ein Teilstück der ehemaligen Grafschaft Bargen herrschten. ln dieser widerrechtlichen Aneignung eines Titels spiegelt sich beispielhaft die durch die Eigenmächtigkeit der Lehensmänner
gekennzeichnete Aufsplitterung des feudalen Herrschaftssystems. Angesichts seines kleinen Herrschaftsgebiets strebte Wilhelm von Aarberg die Stärkung seines Hauses an, doch geriet er darob in Feindschaft mit seinen nächsten Verwandten aus dem Hause Neuenburg, die sich ihrerseits mit der Stadt Freiburg gegen Wilhelm Verbündeten. Als andererseits die Stadt Bern im Jahr 1298 gegen die Herren von Neuenburg und die Stadt Freiburg Krieg führte, beteiligte sich Peter, da er in der
Stadt Bern verburgert war, an der Seite Berns an diesen Auseinandersetzungen.
Jahrelange Streitigkeiten führte Wilhelm später auch gegen das Kloster Frienisberg, das in unmittelbarer Nachbarschaft seines Herrschaftsgebietes und in diesem selbst über namhaften Grundbesitz verfügte. Der Rat von Bern, den das Kloster um Vermittlung in der Streitsache anging, entschied zugunsten des Klosters, das später sogar unter einem Ueberfall des Aarberger Grafen zu leiden hatte. Berns Vermittlung beanspruchte Wilhelm kurz vor seinem Ableben ein zweites Mal, als sein Sohn Peter, unterstützt von gleichgesinnten Helfern, sich gegen ihn erhob, die Burg Aarberg einnahm und ihn gefangensetzte.
Nach dem Tod Wilhelms um das Jahr 1323 trat sein einziger Sohn Peter die Herrschaft an, ein Mann, der die Charakterschwächerı seines Vaters, vor allem aber dessen Fehdelust geerbt hatte. Peter war zwar, wie sein Vater, Burger von Bern und kämpfte deshalb 1333 im Gümmenenkrieg auf der Seite der Berner. Doch wenige Jahre später, im Laupenkrieg, fand man ihn, entgegen seinen vertraglichen Verpflichtungen, schon auf der Seite des gegen Bern kriegführenden Adels. Da er sogar Raubzüge in bernischem Gebiet unterstützte, belagerten die Berner die Stadt Aarberg im Vorfeld des Laupen Krieges, damit «der graf von arberg gewarnot» war, Nach der Niederlage bei Laupen (1339) fiel der rachsüchtige Graf Peter in bernische Gebiete ein, plünderte und brandschatzte, vermied aber wohlweislich den Kampf gegen den <<gewappneten›› Feind. lm Jahr 1340 jedenfalls, als die Berner sich zu energischer Gegenwehr entschlossen, versagte Graf Peter.
Ueber den beträchtlichen Besitz seiner zweiten Frau kam Graf Peter später als Prokurator des Hochstifts Sitten, als Mitglied des Edelgerichts von Neuenburg und als kaiserlícher Reichsschultheiss der Stadt Solothurn wohl zu Aemtern und Ehren, den unaufhaltsamen Untergang und den finanziellen Ruin seiner Herrschaft vermochte er aber nicht mehr aufzuhalten. im Jahr 1358 sah er sich genötigt, die Herrschaft Aarberg der aufstrebenden Stadt Bern für 6000 Gulden zu verpfänden, wobei vertraglich festgelegt wurde, dass die
Pfandschaft fünf Jahre dauern solle. Schon zwei Jahre später aber versuchte Peter die Pfandschaft zu lösen und seine Herrschaft den Herzögen von Oesterreich zu vermitteln, die seit langem danach trachteten, sich im Seeland festzusetzen. Die Stadt Bern war aber keineswegs bereit, ihre Rechte preiszugeben, umso weniger, als sie seit der Verpfändung von 1358 in Aarberg einen Vogt und Schultheissen eingesetzt hatte, der die bernischen Interessen zu wahren hatte. Schon im April 1367 sah sich Peter, von schweren Schulden bedrängt, gezwungen, die Herrschaft Aarberg seinem Vetter, Rudolf von Nidau, zu verkaufen. im entsprechenden Vertrag werden unter anderem die «kilchensetze ze Arberg und ze obern Lisse, darzu die dörffer Lisse, Boswile, Kapellon und Bargen … darzu … die muli ze Lisse und die schupposen ze Liese. . .» erwähnt. Rudolf von Nidau hatte Peter von Aarberg für die Herrschaft Aarberg einen Betrag von 10000 Gulden zu bezahlen und einen gegenüber Bern geschuldeten Betrag von 8438 Gulden samt 382 Gulden Zins zu übernehmen.
Graf Rudolf von Nidau, der sich in finanziell ebenso misslichen Verhältnissen befand wie sein Vetter, verpfändete die Herrschaft Aarberg bereits wenige Wochen nach diesem Verkauf an die Stadt Bern, wobei zugunsten Berns festgelegt wurde, dass die Herrschaft Aarberg der Stadt Bern in den nächsten zwanzig Jahren Gehorsam zu leisten habe, selbst wenn das Pfand vorher ausgelöst werden sollte. Jahr um Jahr sah sich Graf Rudolf von Nidau in der folgenden Zeit gezwungen, die Stadt Bern um Aufschub der Zinspflicht zu bitten und die Zinsen auf die verpfändete Herrschaft aufrechnen zu lassen. Von seinen Zahlungsschwierigkeiten wurde Rudolf von Nidau erst durch seinen Tod bei der Verteidigung der Stadt Büren gegen den Angriff der Gugler am 8. Dezember 1375 erlöst, wo er von einem feindlichen Geschoss getroffen wurde.
Für die nidauischen Erben, die Grafenhäuser von Kyburg und Tierstein-Farnsburg, war die gemeinsam ererbte Herrschaft Aarberg keineswegs ein erfreuliches Erbstück. Deshalb verkauften Graf Simon von Tierstein und seine Ehefrau Katharina von Nidau am 25. Juni 1377 an der Dingstätte (Gerichtsstätte) oberhalb von Erlinsbach im Kanton Solothurn ihren Teil der Herrschaft Aarberg um 4000 Gulden der Stadt Bern, die zwei Jahre später von den Kyburgern schliesslich auch die andere Hälfte der Herrschaft Aarberg für einen Betrag von 4200 Gulden erwarb. So kam Bern endgültig in den Besitz der Herrschaft Aarberg und damit auch von Lyss. Dies stellte für die bernische Ausdehnungspolitik einen umso wichtigeren Schritt dar, als die aufstrebende Stadt Bern damit erstmals im Seeland festen Fuss zu fassen vermochte. Mit der Eroberung der Herrschaften Nidau und Büren im Jahr 1388, die in der Zwischenzeit von den Kyburgern an Oesterreich gekommen waren, baute Bern kurze Zeit später seinen Herrschaftsbereich im bernischcn Seeland kraftvoll aus.
Wenn im Verkaufsvertrag von 1367 unter anderem davon die Rede war, dass die „Dörfer“ Lyss, Busswil, Kappelen und Bargen an das Grafenhaus von Nidau abgetreten wurden, so ist dazu festzuhalten, dass damit keineswegs der gesamte Grund und Boden dieser
Ortschaften gemeint war, denn neben den Grafen von Aarberg verfügten in Lyss noch Verschiedene andere Adelige und Klöster über Grundbesitz. So besassen im 13. und 14. Jahrhundert, hervorgegangenen aus dem Lehenswesen, Rudolf von Balm, Heinrich von Schüpfen, Herrmann von Mattstetten, Heinrich von Seedorf und die Edelknechte von Spins in unserem Dorf Grundbesitz. Als geistliche Grundbesitzer traten in Lyss sodann zeitweilig die Abtei St. Maurice, das Priorat St. Petersinsel, das Johanniterhaus Münchenbuchsee, das Frauenkloster Interlaken, vor allem aber das Kloster Frienisberg auf.
Zu Grund und Boden kamen viele Klöster im frühen Mittelalter nicht nur dadurch, dass
sie unbewohnte oder nur schwach bebaute Gegenden urbarisierten und kolonisierten,
sondern auch durch die Einordnung der Kirche in das Lehenswesen. Um den sich immer unabhängiger gebärdenden Grafen, die im Laufe der Zeit immer mehr wie selbständige Fürsten herrschten, ein Gegengewicht entgegenzustellen, übertrugen die Könige Bischöfen und Aebten mit der Zeit gräfliche Rechte und Grundbesitz, so dass die weltlichen Grafschaften durch zahlreiche, von ihrer Herrschaft unabhängige Gebiete durchlöchert wurden. Zu weiterem Grundbesitz kamen die Klöster auch durch
Schenkungen von weltlichen Herrschern. So vergabte Freiherr Rudolf von Balm
verschiedene Güter und den Kirohensatz von Oberlyss (also Grund und Boden des
Kirchenbaus, die Gebäudeeinrichtungen und die jährlichen Einkünfte des Gotteshauses) dem Frauenkloster Interlaken, das diesen Besitz nach fünfzig Jahren indessen dem Grafen Peter von Aarberg verkaufte. ln unserer Gegend wurden das Frauenkloster Interlaken und das Johanniterhaus Münchenbuchsee vom wesentlich näher gelegenen Kloster Frienisberg an Bedeutung allein schon aus geographischen Gründen bei weitem übertroffen. ln fast allen Ortschaften unserer nächsten Umgebung und in Lyss selbst lässt sich die Besitzespolitik und der Einfluss des Klosters Frienisberg nachweisen, das sich im Laufe seines rund vierhundertjährigen Bestehens zu einem der reichsten und bedeutendsten Klöster in bernischen Landen entwickelte und einen Grundbesitz von mehr als 80 Quadratkilometer besass.
Stifter und Gründer des Klosters Frienisberg war Graf Udelhard ll. von Saugern, der einer begüterten elsässischen Herrsoherfamilie entstammte. Die Stammburg des Geschlechts stand unterhalb Delsberg auf einem Felskamm über der Birs. ln der
Gegend von Seedorf besass Graf Udelhard ein beträchtliches Familiengut, das wahrscheinlich durch seine Mutter Chunnza, eine Angehörige des Grafenhauses Oltingen, in den Besitz der Saugern gekommen war. Udelhard übergab dem Abt des benachbarten Cistercienser-Klosters Lützel seinen Besitz am Frienisberg mit allen Nutzungsrechten zur Gründung einer neuen Abtei des von Bernhard von Clairvaux in Frankreich gegründeten Cistercienser-Ordens. Die Stiftungsurkunde des Klosters Frienisberg trägt die Jahrzahl 1131, doch dürfte sie nachträglich ausgestellt worden sein. Der eigentliche Gründungstag des Klosters, nämlich die Aufnahme des Klosterlebens nach den Ordensregeln unter Aufsicht des ersten Abtes, fiel auf das Frühjahr 1138.
Schon acht Jahre nach der Gründung kam das junge Kloster zum ersten Besitzzuwachs, und zwar im Rebgebiet bei Neuenstadt am Bielersee. lm Jahre 1208, nachdem das Kloster zuvor eine längere Zeit der innern Schwierigkeiten durchgemacht hatte, erwarb es erstmals Güter aus weltlichem Besitz. Aus dem Grundbesitz des Grafen Rudolf von Tierstein, dem Schwiegersohn und Erben des Klosterstifters, kaufte es südlich von Lyss Güter in Ober- und Niederwiler, in Allenwil und in Ziegelried. Knapp zehn Jahre später erhielt das Kloster als Schadenersatz aus dem Besitz des Ritters von Pfeid einige Güter in Weingarten, das zur Kirchhöre von Lyss gehörte, an der heutigen östlichen Gemeindegrenze von Lyss. Zu weiterem Grund und Boden in der nächsten Umgebung von Lyss kam das Kloster im Jahr 1226, als Rudolf I. von Neuenburg-Nidau und seine vier Brüder ihr Eigengut «Strata›› in der Kirchhöre Kappelen dem Kloster zu uneingeschränktem Besitz vergabten. Durch ein Tauschgeschäft mit dem benachbarten Cluniacenser-Priorat auf der St. Petersinsel erweiterte das Kloster Frienisberg 1228 diesen Besitz mit einem Gut bei Werdt. Schliesslich vergrösserte im Jahr 1231 eine Vergabung aus den Händen von Johann und Elisabeth von Bickingen, die ihren ganzen väterlichen Besitz zu Werdt einschliesslich einer Kapelle dem Kloster übergaben, den klösterlichen Grundbesitz an der heutigen Westgrenze des Dorfes Lyss. Dass dem Kloster am systematischen Ausbau dieses Stützpunktes in der Seelandebene gelegen war, unterstreicht der im Jahr 1249 erfolgte Erwerb der Buccomatte und des Schweigholzes in Werdt aus dem Besitz des kyburgischen Dienst- und Lehensmannes Bucco von Oltingen.
Die Werdthöfe gehörten zur Kirchhöre (Kirchgemeinde) Lyss, die Bewohner von Werdt hingegen pflegten mit Kappelen engere Kontakte als mit der Ortschaft Lyss, die sie überdies nur mit der Fähre über die alte Aare erreichen konnten. Als es im Jahr 1805
zwischen Lyss und Kappelen zu Grenzstreitigkeiten kam, berief sich Kappelen auf einen Entscheid, wonach «zufolge älteren, hochobrigkeitlichen Erkanntnissen von 1730 und 1742 die Aare die March sei und bleiben solle››, während umgekehrt Lyss darauf hinwies, dass laut Aarberger Schlossurbar (Grundbuch) vom Jahr 1621 die Werdthöfe zur Kirchhöre Lyss gehörten. Erst nach langwierigen Verhandlungen mit der Berner Regierung und mit der Kirchgemeinde Kappelen wurden die Werdthöfe 1876 von der Kirchgemeinde Lyss abgetrennt, wobei sie gleichzeitig ihre teilweise politische Selbständigkeit verloren und mit der Gemeinde Kappelen vereinigt wurden.
Die seit dem frühen 13.Jahrhundert immer deutlicher erkennbare Ausdehnungs- und Erwerbspolitik des Klosters Frienisberg rief verständlicherweise bald Streitigkeiten mit benachbarten Grundbesitzern hervor. ln einem Schiedsspruch, der um das Jahr 1238 gefällt wurde, hielt man beispielsweise fest, dass das Land «was ob der Strass, die von der kilchen zu Lyss zur Hochen Furren gad, gegen der rechten Hand lige, sye des Grafen» (Graf Rudolf von Tierstein). Finanzielle Grundlage des planmässig betriebenen klösterlichen Landerwerbs war die besondere, von den Cisterciensern allgemein gehandhabte Gutswirtschaft. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass die von den Klosterleuten urbarisierten, weitgehend geschlossenen Landstriche von einem klösterlichen Gutshof aus durch Klosterangehörige selbst oder aber im Auftrag zweckdienlich und ertragreich bewirtschaftet wurden. Deshalb waren diese Güter finanziell weit einträglicher als die üblichen, oft weit herum zerstreuten und wenig zinstragenclen Klostergüter, die an Zinsbauern verpachtet wurden. Die zunehmenden Einkünfte legte das Kloster Frienisberg vorzugsweise in neuem Landerwerb an.
Auf diese Weise kam das Kloster im Jahr 1259 zu Landbesitz in Schüpfen, 1261 folgten Güter in Büetigen und 1265 vergabter Grund und Boden in Scheunenberg und Janzenhaus. lm gleichen Jahrzehnt wurde das Kloster Frienisberg erstmals auch im Dorf Lyss Grundbesitzer: lm Jahr 1264 trat Ritter Heinrich von Schüpfen, ein Lehensmann der Gräfin von Kyburg, verschiedene Güter, „Sellant“ genannt, an das Kloster ab, da Heinrich zuvor dem Kloster Schaden zugefügt hatte. lm Jahr 1274 bestätigte Graf Eberhard von Kyburg diese Vergabung und 1279 bekräftigte auch Berchta von Grissach, die Tochter Heinrichs von Schüpfen, den Besitzerwechsel. Durch eine Schenkung aus dem Besitz Heinrichs von Seedorf, der Güter in Seedorf, Lyss, Büetigen und Schüpfen besass, kam das Kloster Frienisberg im Mai 1284 zu weiterem Grundeigentum in unserem Dorf. Heinrich, der im Frienisberger Jahrzehntenbuch als «vorzüglicher Freund und Wohltäter» des Klosters bezeichnet wird, beabsichtigte durch diese Vergebung wohl, die Fürbitte der Mönche für sein Seelenheil zu erreichen. Zudem erwarb er sich durch seine ausserordentlich grosse Schenkung, einer alten Sitte des Mittelalters entsprechend, die Gunst der Mönche, im Falle einer ernsthaften Erkrankung oder im Augenblick seines Todes mit dem Gewand eines Cistercienser-Laienbruders bekleidet in die Gemeinschaft des Kloster-Konvents aufgenommen zu werden. Schon am 4. Juni 1284 verzichtete Mechthild von Seedorf, die Witwe des inzwischen verstorbenen Heinrich, in einem Vertrag mit Abt und Konvent des Klosters Frienisberg auf die von ihrem Gemahl dem Kloster vermachten Güter. Auf verwickelten, für die Zeit des Feudalismus bezeichnenden Wegen kam schliesslich auch die Kirche von Niederlyss, die heutige «alte Kirche››, an das Kloster Frienisberg. Ueber Otto von Gisenstein, der als erster Kirchherr von Niederlyss genannt wird, war das Gotteshaus 1371 verkaufsweise an Chunrat von Durrach und dann durch Erbgang an dessen Schwager Niklaus von Esche gekommen, der das Gotteshaus später dem Kloster Frienisberg vermachte. Mit dem Uebergang der Kirche von Niederlyss an Frienisberg kam dieses Kloster überdies in den Besitz einer Mühle in Lyss, der heutigen Mühle am Mühleplatz, die das Johanniterhaus Münchenbuchsee im Jahr 1246 dem Leutpriester der Kirche von Niederlyss geschenkt hatte. Diese Mühle war bis zur Reformation im Jahr 1528, in deren Verlauf der gesamte Besitz der bernischen Klöster an den Staat Bern fiel, die Klostermühle der Frlenisberger Mönche.
Nach dem Uebergang der Herrschaft Aarberg an Bern in den Jahren 1377/79 wurde Aarberg eine Landvogtei. Als wichtigste Amtsperson im Dienste der Berner Regierung war der Schultheiss oder Landvogt tätig, der vom Rate in Bern gewählt wurde. ln der
Zeit von 1358 (der ersten Verpfändung der Grafschaft Aarberg an die Stadt Bern) bis 1798, dem Jahr des Untergangs des Berner Patriziats, residierten in der Landvogtei Aarberg mehr als 100 Landvögte, die fast ausnahmslos Berner Patrizierfamilien
entstammten. Zur Zeit der Helvetik (1798 - 1803) regierte ein Distriktstatthalter über unser Gebiet, der zur Zeit der Meditation und Restauration (1803 - 1830) von einem Ober-Amtmann abgelöst wurde. im Laufe der Regierungszeit der Landvögte vergrösserte sich der Umfang der Landvogtei Aarberg wesentlich. Ursprünglich, beim Erwerb durch die Stadt Bern, umfasste sie nur die fünf Ortschaften Aarberg, Lyss, Busswil, Bargen und Kappelen mit einer Fläche von rund 39 Quadratkilometer. Durch den Erwerb der Herrschaft Oltingen, des Rests der ehemaligen Grafschaft Oltingen, kamen in den Jahren 1412/13 die Dörfer Grossaffoltern und Radelfingen zur Landvogtei Aarberg, und im 16.Jahrhundert folgten aus der Erbschaft Thürings von Balmoos die Dörfer Kallnach und Niederried. Bis zum Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798 erlebte die Landvogtei Aarberg keine Gebietserweiterung mehr, doch machte sie in den nachfolgenden Jahren der Helvetik eine grundlegende Umwandlung durch: sie wurde dem Distrikt Zollikofen zugeteilt, dessen Hauptort vorerst Schüpfen, später aber, auf Ersuchen der Stadt Aarberg und der umliegenden Dörfer, wieder Aarberg war. Die linksseitig der Aare gelegenen Dörfer Bargen, Kallnach, Kappelen und Werdt andererseit teilte man damals dem Distrikt Seeland zu. ln der Zeit der Meditation hob man die helvetischen Distrikte wieder auf; an ihre Stelle traten die Amtsbezirke. Dem Amtsbezirk Aarberg wurden bei dieser im wesentlichen bis heute gültigen Neueinteilung die Gemeinden Meikirch und Schüpfen angegliedert.
Februar 1977 Max Gribi