von der oberen und unteren Kirche
Einem im Jahre 1009 ausgefertigten Tauschvertrag des Klosters St-Maurice, dem Hauskloster des burgundischen Königshauses, ist zu entnehmen, dass eine Kirche unseres Dorfes der im Bistum Lausanne gelegenen Abtei St-Maurice gehörte, die auch in andern Teilen des Seelandes Grundbesitz hatte. Die Jahrzahl 1009 ist in doppelter Hinsicht von Interesse, gilt sie doch als vergleichsweise frühe Nachricht in der bernischen Kirchengeschichte, anderseits stellt sie die urkundlich früheste Erwähnung unserer Ortschaft dar. Sie gehört damit zu den ersten schriftlich bezeugten Siedlungen des Seelandes (Bürglen 817, Biel 999, Lengnau 1000, Ins 1009, Büren 1185, Aarberg 1220).
Im frühen 13. Jahrhundert kam dieses der heiligen Maria geweihte Gotteshaus, einem allgemeinen Brauche der mittelalterlichen Zeit folgend, wonach die Kirchengüter von Hand zu Hand verkauft wurden, an die Freiherrenfarnilie von Balm und bereits 1282 schenkungsweise an das Frauenkloster Interlaken. Rund fünfzig Jahre später fielen Kirche und Kirchspiel Lyss durch Verkauf an Graf Peter von Aarberg, dessen Herrschaft aber im Jahre 1358 an Bern verpfändet und neun Jahre später an Graf Rudolf von Nidau weiterverkauft wurde. Erst im Jahre 1377 fanden die wechselvollen Besitzesverhältnisse der Kirche ein Ende, indem die Grafschaft Aarberg und damit auch der Kirchensatz an den Staat Bern überging.
Ein für das bernische Mittelland einmaliger, geschichtlich und rechtlich noch ungeklärter Fall stellt das gleichzeitige Bestehen zweier Kirchen in Lyss dar, wie dies aus einem im Jahre 1238 gefällten Schiedsspruch hervorgeht. In der Urkunde aus dem Jahre 1009 war nur von der «Kirche zu Lyss» die Rede; im Schiedsspruch dagegen wird sie als die «obere Kirche» bezeichnet. Es kann also angenommen werden, dass in Lyss eine weitere, die «untere Kirche›>, erbaut wurde. Bis zur Restauration der heutigen alten Kirche, die aus der ehemaligen «untern Kirche» hervorgegangen ist, nahm man an, dass dieses Gotteshaus im 11. Oder 12.Jahrhundert erbaut worden sei.
Die von Fachleuten Ende der sechziger Jahre ausgeführten Grabungen zeigten indessen, dass diese Kirche spätantik-frühchristlichen Ursprungs ist und aus dem 7. oder 8.Jahrhundert stammen muss. Die Kirche wurde über einem wahrscheinlich heidnischen Sippenfriedhof erbaut. Es handelte sich um eine von einem begüterten Grundbesitzer gestiftete Eigenkirche, die auf den Ortsadel, vielleicht auf die kyburgischen Ministerialen von Lyss, die um 1130 nachgewiesen sind, zurückgeführt werden kann. Das Senkgrab des Kirchenstifters wurde in das Fundamentmauerwerk des ersten, saalfömrigen Kirchenbaus einbezogen und bei allen späteren Umbauten geschont. Eine in der Südwand des Gotteshauses eingelassene Arkosolnische, die im 15.Jahrhundert mit der Figur eines Feiertagschristus ausgeschmückt wurde, kennzeichnet die Lage des Grabes. Mit der Christusfigur, die zu den ikonographischen Seltenheiten unseres Landes zählt, rief die Kirche zur Heiligung des Sonntags und der kirchlichen Feste auf.
Im Jahre 1353 wurde die «untere Kirche» als Dekanatssitz erwähnt; achtzehn Jahre später veräusserte sie Otto von Gisenstein an den Solothurner Konrad von Durrach. Über den Bernburger Niklaus von Esche kam das reichbegüterte Gotteshaus gemäss einer Bestätigungsurkunde von Papst Gregor XI. von Avignon an das Zisterzienserkloster Frienisberg.
Schon in früheren Zeiten war dieses in den Jahren 1131/38 gegründete Kloster zu Besitz in Lyss gekommen, indem ihm im Jahre 1264 aus dem Besitz der Gräfin Elisabeth von Kyburg die Lysser Güter «Sellant» abgetreten wurden, in deren Bezeichnung einige Forscher die urkundlich älteste Erwähnung der Bezeichnung «Seeland» sehen.
Jüngere Forschungen hingegen weisen darauf hin, dass diese Güter als «Salland» verstanden werden könnten, als Land also, das von einem Königshof aus im Eigenbau bewirtschaftet wurde. Ein Tauschhandel mit dem Cluniacenser-Priorat auf der St. Petersinsel, Vergabungen und verschiedene Grundstückverkäufe hatten dem Kloster zuvor schon Güter im nördlich des Dorfes Lyss gelegenen Werdt eingebracht. Sie bildeten den Grundstein des Klostergutes auf dem Werdthof, der später an die Kirchhöre Lyss fiel und erst im Jahre 1876 an die Einwohner- und Kirchgemeinde Kappelen überging.
Nach der Aufhebung des Klosters Frienisberg in der Reformationszeit fiel die «untere Kirche» an den Staat Bern. Sie entwickelte sich, da die «obere Kirche» bereits im Jahre 1465 als «ruinosa›› nachgewiesen und 1533 abgebrochen worden war, zur Dorfkirche von Lyss.
Max Gribi