Die Eisenbahn verändert das Dorf
ln einem Expertenbericht zuhanden des Bundesrates schlugen die beiden Engländer Robert Stephenson (der Sohn des Erbauers der ersten Lokomotive) und Swinburne um 1850 vor, in der West-Ost-Richtung der Schweiz eine Eisenbahnlinie von Olten über Lyss nach Murten-Yverdon und Morges zu führen. An diese westliche Stammlinie des schweizerischen Eisenbahnnetzes hätte die Hauptstadt Bern und das Berner Oberland in Lyss angeschlossen werden sollen. Mit diesem Plan konnte sich der Staat Bern jedoch nicht befreunden, vielmehr kam es 1852 zu einem Vertrag mit den Kantonen Freiburg, Waadt und Genf, in dem man sich einigte, nur einer Bahnlinie auf der Strecke Olten-Langenthal-Burgdorf-Bern -Freiburg eine Baubewilligung zu erteilen.
Im gleichen ]ahr schloss der Kanton Bern mit der Basler Centralbahngesellschaft einen Konzessionsvertrag ab. Die Gesellschaft übernahm darin die Verpflichtung, eine Bahnlinie von Murgenthal bis an die Freiburger Grenze zu erstellen. Damit wurde Lyss von der grossen Ost-West-Eisenbahnachse abgeschnitten. Anderseits enthielt der gleiche Vertrag die Bestimmung, dass bis 1857 der Bau einer Bahnlinie von Biel über Lyss nach Bern in Angriff genommen werden müsse. Die Ausführung dieses Projektes verzögerte sich aber, weil es zwischen den damaligen privaten Bahngesellschaften zu einem Seilziehen um Konzessionserteilungen kam. In diesem Interessenkampf trat 1855 unter anderem auch die neuenburgische Verrières-Bahn-Gesellschaft auf, die beim Kanton Bern um eine Konzession für den Bau einer Bahnlinie von der Zihlbrücke nach Lyss sowie für den Bau einer Bahnlinie von Biel über Lyss nach Bern nachsuchte.
Während der Auseinandersetzungen um die Konzessionserteilung, in deren Verlauf immer deutlicher der Staatsbahngedanke aufkam, wurde der Ost-West-Bahngesellschaft die Bewilligung erteilt, auf der Strecke Neuenstadt_Biel_Lyss_Bern eine Bahnlinie zu erstellen. Finanzielle Schwierigkeiten verunmöglichten aber dieses Projekt, so dass nur die Strecke Neuenstadt_Biel zustande kam. Nach äusserst heftigen Debatten im Frühjahr 1861 beschloss der bernische Grosse Rat schliesslich im August 1861, die Strecke Neuenstadt-Biel-Bern-Langnau durch den Staat, das heisst durch die «Bernische Staatsbahn» zu betreiben.
Die Projektierungsarbeiten auf dem Teilstück Zollikofen-Suberg boten keine grösseren Probleme; Schwierigkeiten hingegen verursachte die Frage, mit welchen technischen Mitteln und an welcher Stelle die damals noch in unzähligen Flussläufen daherfliessende Aare zwischen Aarberg und Büren zu überqueren sei. Verkehrstechnisch drängte sich die kürzeste Verbindung über Lyss-Busswil_Studen auf, doch stellte die Aare, die sich in dieser Gegend in einem Flussbett von 4.000 Fuss (das heisst rund 1,2 km) Breite bewegte, die Fachleute vor fast unlösbare Probleme.
In der grossrätlichen Debatte vom Dezember 1 861 äusserte sich Regierungsrat Schenk zur Gefährlichkeit der Aare bei Lyss mit den Worten: «Aber es ist keineswegs ein zusammenhängender Fluss, der ruhig dahinfliesst, sondern er bewegt sich innerhalb dieser Breite mit der ungeheuerlichsten Veränderlichkeit, wie eine eigentliche Schlange. Ein Jahr wirft er sich nach dieser Seite herüber, prallt an und ändert das folgende Jahr seine Richtung vollständig. Ihr Lauf hat sich so sehr verändert, dass der Oberingenieur der Staatsbahn, der im Jahr 1859 auf diesem Gebiet eine Schiffsbrücke schlug, die betreffende Stelle nicht mehr finden konnte» Es verwundert deshalb nicht, wenn unter diesen Umständen nicht weniger als fünf Varianten zur Führung der Strecke Suberg-Biel überprüft wurden, nämlich:
I: Kosthofen-Nikodey-Aarberg-Studen-Biel
II: Kosthofen-Lyss-Aarberg-Studen-Biel
III: Kosthofen-Lyss-Worben-Studen_Biel
IV: Kosthofen-Lyss-Busswil-Studen-BieI
VI: Kosthofen-Lyss-Busswil-Büren-Pieterlen-Biel
Nachdem aber im Nationalrat die Ausführung der Juragewässerkorrektion beschlossen worden war, stimmte der bernische Grosse Rat nach kurzem lokalpolitischem Hin und Her zwischen Aarberg und Lyss im Frühjahr 1862 der Linie Suberg-Lyss-Busswil-Biel zu.
Ob der grossrätliche Beschluss schliesslich durch die weitsichtige Haltung der Gemeinde Lyss in der Trasseefrage beeinflusst wurde, kann nachträglich kaum ınehr ergründet werden; sicher ist hingegen, dass die Gemeinde Lyss dem Staat Bern zusicherte, das Gemeindeland für den Bau der Eisenbahnlinie unentgeltlich abzutreten, für allfällige Schwellen- und Dammbauten 5000 Schwellenwedelen kostenlos abzugeben und auf Schadenersatzforderungen zu verzichten, falls durch den Eisenbahnbau Überschwemmungen der Aare verursacht worden wären.
Am 28. Mai 1864 fuhr der erste Eisenbahnzug von Bern nach Biel. Mit dem Anschluss an die bernische Nord-Süd-Achse des Eisenbalınverkehrs wurde in der Geschichte unseres Dorfes ein Markstein gesetzt, der die eigentliche Entwicklung von Lyss zum Verkehrsknotenpunkt und Wirtschaftszentrum auslöste. 1876 wurde das Dorf durch den Bau der Eisenbahnlinie Lyss-Murten-Lausanne zum Eisenbahnknotenpunkt; ein Jahr später folgte bereits dessen Ausbau mit der Eröffnung der Bahnlinie Lyss-Büren-Solothurn.
Keine Chancen hatte umgekehrt in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Projekt der Nationalbahngesellschaft, vom Bodensee zum Genfersee eine sogenannte «Volksbahn» zu bauen, an der sich Kantone, Gemeinden und «kleine Leute» hätten beteiligen sollen. Vorgesehen wurde damals die Verwirklichung eines Bahnprojektes auf den Teilstrecken Konstanz-Winterthur-Lenzburg-Zofingen und Zofingen-Langenthal-Lyss. In einem späteren Zeitpunkt gedachte man, die Nationalbahn von Lyss über Payerne nach Palézieux zu führen.
Die in den Jahren 1903-1909 geführten Verhandlungen über die Fortsetzung der Lötschberglinie Richtung Frankreich über Lyss-Büren-Grenchen-Münster oder Lyss-Biel-Grenchen-Münster berührten das Dorf Lyss kaum, da es bei der Wahl dieser oder jener Lösung zu verbesserten Bahnanschlüssen kam.
Vergeblich waren hingegen die Bemühungen der Gemeinde Lyss um ein Bahnprojekt im Jahre 1910, das den Bau einer Bahnverbindung von Lyss durch das Limpachtal nach Bätterkinden vorsah, dann aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges hinfällig und später durch die Einführung von Postautokursen aufgewogen wurde.
Von wirtschaftlicher Bedeutung dagegen war die Eröffnung des internationalen Autoreisezuges Calais-Lyss-Calais und die 1963 verwirklichte Zentralisation der Postautokurse aus den Einzugsgebieten Frienisberg, Bucheggberg und Limpachtal im Bahnhof Lyss, welche die nähere Region noch enger mit der Ortschaft verbindet.
Auf die bauliche Entwicklung der Ortschaft wirkte sich das Eisenbahnzeitalter in mehrfacher Beziehung aus. Das Dorf wurde durch die Eisenbahnlinien in drei Siedlungsbezirke zerschnitten, Eisenbahndämme und Abgrabungen veränderten das natürliche Landschaftsbild, und im Dorfkern löste der Schienenverkehr eine neue Bauperiode aus. Der Bahnhof entwickelte sich zu einem zugkräftigen Siedlungskern, in dessen Nähe Geschäftshäuser, Gasthöfe und Wohnhäuser entstanden. Der alte Dorfkern, jahrhundertelang bei Kirche und Mühle gelegen, hatte sich bereits mit dem Ausbau der Strassen Bern-Biel und Lausanne- Solothurn in der Richtung des heutigen Hirschenplatzes verlagert und kam nun durch den Standort des Bahnhofes zu seiner endgültigen zentralen Lage innerhalb der Ortschaft.