rund um das Lysser Wappen
«ln Blau auf einem grünen Dreiberg eine silberne Lilie mit goldener Spange›› - mit diesen Worten charakterisiert der Heraldiker das Wappen der Gemeinde Lyss, das wir auf dem Briefpapier der Gemeinde, in offiziellen Publikationen im Amtsanzeiger, auf Vereinsfahnen und Jubiläumsschriften, in Firmensigneten und selbst auf einer SBB-Lokomotive antreffen.
Schon um das Jahr 1780, das weiss das vom bernischen Staatsarchiv 1981 heraus-
gegebene «Wappenbuch des Kantons Bern» zu berichten, soll das Wappen in Gebrauch gewesen sein. Aus dem Jahr 1891, als die beiden von 1611 und 1679 stammenden Glocken der alten Kirche anlässlich des überdimensionierten Kirchturmneubaus durch vier neue Glocken ersetzt wurden, stammt die Nachricht, wonach eine Kirchenglocke das Lysser Wappen trug. 1907 sodann, wahrscheinlich für die Herstellung einer Vereinsfahne, wurde die Wappenbeschreibung mit den Worten «weisse Lilie mit goldener Spange auf drei Bergen und blauem Schild» festgelegt. Trotz dieser eindeutigen Blasonierung (Wappenbeschreibung) stellte man das Wappen in späteren Jahren oft ohne Dreiberg dar, so dass es leicht mit den Wappen der Gemeinden Zäziwil oder Epauvillers zu verwechseln war. Umgekehrt fügte man der Lilie, beispielsweise auf offiziellem Papier der damals noch selbständigen Schulgemeinde Lyss, noch zwei Staubfäden bei; damit stimmte das Wappen ungewollt mit dem noch heute gebräuchlichen Wappen der Stadt Florenz überein. Die Gemeinde Lyss wurde deshalb von den kantonalen Behörden mehrmals angehalten, im Gemeindewappen konsequent den Dreiberg zu verwenden.
Am 30.Mai 1944 nahm der Gemeinderat davon Kenntnis, dass die Wappenkommission des Kantons Bern eine allgemeine Bereinigung der Gemeindewappen durchführe. Zur endgültigen Festlegung des Lysser Gemeindewappens setzte der Rat auf Vorschlag von Gemeindeschreiber Fritz Marti eine «Wappenkommission›› ein. Unter dem Vorsitz von Dr. Fritz König, damals Präsident des Kunstkollegiums, erörterten die sich «in der Gemeinde befindenden Heraldiker››, nämlich Sekundarlehrer Dr. Ernst Oppliger, Bildhauer Arnold von Arx, Graphiker Willi Simmler und Architekt Hans Abplanalp, die Wappengestaltung. Am 28. Oktober 1944 unterbreitete die Kommission dem Gemeinderat den Vorschlag. das bisherige Wappen beizubehalten, aber «alle Varianten ohne Dreiberg oder mit hinzugefügten Staubgefässen in Zukunft als unrichtig abzulehnen››.
ln seinem 1948 von der Gemeinde Lyss veröffentlichten Buch «Lyss - seine Geschichte» erwähnt Dr. Ernst Oppliger, dass «Pfarrer Gerster in Kappelen››, ein bekannter Freizeit-Heraldiker, als Grundlage des Lysser Wappens den französischen Begriff «fleur de lys›› (Lilie) verwendete. Aus dem Gleichklang von «Lyss›› und «lys›› müsste Pfarrer Gerster demnach zum Motiv des Lysser Wappens gekommen sein - wohl in Unkenntnis der Tatsache, dass der Ortsname Lyss vom keltischen «lessa›› (Stall, kleine Hütte) und nicht von «fleur de lys›› abzuleiten ist. Pfarrer Karl Ludwig Gerster (1846-1923), der in den Jahren 1886-1922 im Nachbardorf Kappelen wirkte, ist nach Oppliger als Schöpfer des Lysser Wappens zu betrachten. Ganz abwegig ist diese Annahme nicht, denn Pfarrer Gerster, pflegte mit Lyss gute Beziehungen. So ist beispielsweise im Protokoll der Lysser Schulbehörde vom 6. Mai 1899 zu lesen: «Dem Herrn Gerster, Glasmaler, Sohn des Herr Pfarrer Gerster in Kappelen, welcher sich hier etablisieren will, wird bewilligt, diesen Sommer eine Kiste mit köstlichen Glasscheiben im Schulhauskeller (Kohlenraum) aufzubewahren. Das Lokal ist abzuschliessen und ihm dazu der Schlüssel zu übergeben. Diese Bewilligung währt bis im Herbst, und es wird jede Verantwortung bezüglich der Sicherheit dieser Scheiben abgelehnt.›› Beizufügen ist, dass Pfarrer Max Billeter, der in den Jahren 1888-1925 in Lyss wirkte, die Abdankungsansprache hielt, als Pfarrer Karl Ludwig Gerster, an dessen vielfältiges Schaffen eine Gedenktafel an der Kirche Kappelen erinnert, 1923 in unserem Nachbardorf beigesetzt wurde.
Karl Ludwig Gerster, Angehöriger eines seit 1550 in Twann nachweisbaren Bürgergeschlechts, wurde am 10. November 1846 in Gadmen im Oberhasli als ältester Sohn des Dorfpfarrers geboren, wo er auch seine ersten Lebensjahre verbrachte. ln Eriswil, dem späteren Wirkungsort seines Vaters, besuchte er die Volksschule und trat dann an die Kantonsschule (Gymnasium) in Bern über. ln der Bundesstadt absolvierte er anschliessend auch seine theologischen Studien. Nach seiner Konsekration als bernischer Geistlicher im Jahre 1873 war Karl Ludwig Gerster vorerst als Pfarrverweser und Vikar in Rüeggisberg und Kirchlindach tätig. 1875 wählte ihn die Kirchgemeinde Ferenbalm zum Nachfolger seines verstorbenen Oheims. Ab 1880 war er anschliessend Pfarrer in Siselen, bis er 1886 nach Kappelen übersiedelte, wo er während 36 Jahren wirkte. Am 3. September 1923 verstarb Karl Ludwig Gerster in Diemerswil, wo der Nimmermüde seinen kurzen Lebensabend verbracht hatte.
Die vielseitigen Interessen Pfarrer Gersters begannen sich schon während seiner Tätigkeit in Ferenbalm abzuzeichnen. Sein Onkel führte ihn fachkundig ins Schreinerhandwerk ein. Handwerkliches Geschick und Kunstverstand brachten es mit sich, dass der pfarrherrliche Freizeitschreiner bald mit Eifer Truhen, Schränke, Tische und Wandverkleidungen restaurierte und dabei immer mehr Gefallen an Intarsien fand, von deren Zeichnungen er sich im Laufe der Jahre eine grosse Mustersammlung anlegte. Glanzstück seiner Kunstfertigkeit war ein Tisch, geschmückt mit den Wappen der Eidgenossenschaft und der 22 Kantone, den die ehemaligen Heidelberger Studenten der Schweiz der Universität Heidelberg 1886 zum Jubiläum ihres 500jährigen Bestehens schenkten, ln Kappelen zeugen noch heute die kunstvoll mit Intarsien geschmückte Kanzel, das Südportal der Kirche und eine Türe im Pfarrhaus vom künstlerisch-handwerklichen Können Pfarrer Gersters.
Eine Waffensammlung mit Spiessen, Hellebarden und Lanzen, eine Sammlung von
seltenem Langnauer und Simmentaler Geschirr (heute im Historischen Museum in Neuenburg untergebracht), eine Plakatsammlung, das unvollendet gebliebene Manuskript über die bernischen Kirchen, die er zusammen mit seiner Familie besuchte, ausmass, zeichnete und bezüglich Kanzel, Abendmahlstein, Glocken und Scheiben inventarisierte, eine selbst angefertigte Abguss-Sammlung von Glockenheiligen und -wappen (darunter der Abguss der heiligen Peter und Paul von einer Glocke in Täuffelen), eine Sammlung von selbstgebundenen Büchern und die Gründung der Dorfbibliothek Kappelen - dies alles zeigt die vielseitigen lnteressen des unermüdlich tätigen und forschenden Pfarrherrn auf. Zu landesweiter und gar internationaler Bekanntheit allerdings kam Pfarrer Gerster durch seine Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Bibliothekszeichen (Ex Libris). Angeregt durch den damaligen Direktor des Historischen Museums Neuenburg, Prof. Dr. Alfred Godet, widmete sich Gerster seit 1893 diesem ihm vorher unbekannten Kunstzweig mit bewundernswerter Hingebung. ln Bibliotheken und Privathäusern, in allen schweizerischen und in einigen ausländischen Klöstern, in Museen, bei Freunden und Sammlern trug er unermüdlich Bibliothekszeichen zusammen, studierte deren Zeichner und Stecher, befasste sich mit Entwicklung, Gattungen und Verbreitung der Ex-Libris-Kunst. Schon nach fünf Jahren waren seine Kenntnisse und seine Sammlung von Bibliothekszeichen so umfangreich, dass er es «wagen durfte, als erster Bearbeiter dieses Kunstzweiges in der Schweiz›› (Prof. Dr. H. Türler) sein grundlegendes Werk «Die schweizerischen Bibliothekszeichen (Ex Libris)››
herauszugeben, in dem er nicht weniger als 2686 derartige Zeichen aufführte. ln den «Schweizerischen Blättern für Ex-Libris-Sammler» veröffentlichte Pfarrer Gerster um die Jahrhundertwende sodann zahlreiche weitere Arbeiten. ln der Zeitschrift der «Archives heraldiques Suisses» erschienen schliesslich mehrere Beiträge aus seiner Feder, die sein zeitlebens vorhandenes, durch die Ex-Libris-Forschungen und die Glockenabgüsse verstärktes lnteresse an der Heraldik (Wappenkunde) unterstrichen. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang etwa die Arbeiten «Ein Wappenbuch des Kantons Uri, Ein Nürnberger Wappenblatt, Zwei alte Rheinauer Wappen, Wappen auf dem Teppich in Altenklingen, Gregorius Sikkinger als Heraldiker» und «Das Wappenbiatt des Franz Leodgar von Niederöst››.
Wappen 6
Die Lilie, eine «künstliche›› oder «gemeine›› Figur der Heraldik wie Sonne, Mond, sechsstrahliger Stern, dreitürmige Burg, Dreiberg, Feuerstrahl, Rose, Löwe, Hirsch oder Fisch, gehört zu den am häufigsten verwendeten Wappenmotiven. Als dekoratives Element findet man sie schon im frühen Mittelalter, beispielsweise auf Bildern der Kreuzzüge. Ihre Verwendung reicht bis auf das alte Ägypten zurück, wo sie als Schmuck der Königskronen oder neben der Lotusblume als Säulenzier verwendet wurde. Bei den Assyrern andererseits trifft man Lilienmotive auf Ziegeln oder auf einem Königshelm, bei den Etruskern als Gefässverzierung. Völlig entwickelte Lilien findet man auf byzantinischen Kronen und auf römischen Münzen. Vermutlich wurde die Lilie lange vor den Kreuzzügen von den Arabern, deren Münzen des 6. Jahrhunderts bereits eine Lilienprägung aufwiesen, nach Europa eingeführt, wo sie bald auf der Krone des Merowinger Herzogs Hunald von Aquitanien (735-745) auftaucht, Der bekannteste Vertreter des nachfolgenden Frankengeschlechts der Karolinger, Karl der Grosse, soll seinerseits 12 Grafen die Erlaubnis erteilt
haben, in ihrem Wappen goldene Lilien zu führen. lm 9. Jahrhundert erschien die Lilie ebenfalls auf der Bibel Karls des Kahlen, im 10. Jahrhundert schmückte sie Kronen und Zepter der deutschen Kaiser, die Kronen verschiedener englischer Könige und die Schilde der Könige von Navarra. lm gleichen Jahrhundert erschien sie auf Siegeln des französischen Königshauses und unter Ludwig Vll. im Jahre 1179 erstmals im französischen Wappen.
Die Lilie, wie Rose, Stern und Halbmond ein Symbol der Mutter Gottes (mit Schwert und Turm zusammen Zeichen der Heiligen Barbara), wurde zum heraldischen Hauptmotiv der Könige von Frankreich. Ursprünglich wies deren Banner eine unbestimmte Zahl von Lilien auf; Karl der Vl. (1380-1422) beschränkte sie, im Zeichen der Dreieinigkeit, auf drei. Beim hohen französischen Adel galt es nach Karl dem Vl. als besondere Auszeichnung, im Hauswappen eine Lilie führen zu dürfen. Als Beispiele seien die Familien von Burgund und Angoulême, der Bourbonen, Naples, De Vic oder De l'Hôpital erwähnt,
Dass sich die Lilie als Wappenmotiv aber auch in andern Ländern (Deutschland, England, Schweiz, Italien) und in einzelnen nichtfranzösischen Landesgegenden stark ausbreitete, belegt etwa der Heraldiker Gustav A. Seyler, wenn er feststellt, dass allein in Friesland 19 Wappen mit Lilie, 14 Wappen mit Lilie und Rosen, 15 Wappen mit Lilie und Sternen, 4 Wappen mit Lilien und Halbmonden, 4 Wappen mit Lilien, Rosen und Halbmonden, 10 Wappen mit Lilien, Sternen und Halbmonden sowie 21 Wappen mit Lilien und nicht der Mutter Gottes geweihten Attributen bekannt sind.
lm Laufe der Geschichte veränderte sich die Gestalt der Lilie in der Heraldik entsprechend dem jeweiligen Zeitgeschmack und Kunststil. Ihre Formen wurden, wie die nachfolgende Abbildung zeigt, immer schwellender; in unserer Zeit dagegen greift man immer häufiger auf die heraldische Urform des 13. Jahrhunderts zurück.
Wappen 5
Neben der eigentlichen Lilienfigur findet man in der Heraldik auch verschiedene Abwandlungen dieses Motivs, beispielsweise den Lilienstab (Lilienzepter), die Lilienhaspel (Glevenrad), die meistens aus acht radial angeordneten Lilienstäben besteht , das Lilienkreuz, die Halblilie und die oberhalbe Lilie.
Wappen 8
Nach diesem kurzen Ausblick ins Reich der Heraldik soll anschliessend die vielfältige Verbreitung und Verwendung des Lilienmotivs an einigen Beispielen aufgezeigt und damit unser Lysser Gemeindewappen zugleich in einen grösseren heraldischen Zusammenhang gestellt werden. Beginnen wir dabei mit den bernischen Gemeinden, deren Wappen ebenfalls ein Lilienmotiv aufweist, dann stossen wir auf Arni, Blumenstein, Brislach, Forst, Gais, Grellingen, Lyssach, Nenzlingen, Zäziwil und Zwingen.
Wappen 4
Werfen wir einen Blick über die Kantonsgrenzen hinaus, dann begegnen wir etwa den
Gemeindewappen von Coeuve, Boncourt, Dietikon, Epauvillers, Hallau, Prilly, Schlieren Vendlincourt oder Villars-sur-Glâne,
Wappen 3
Runden wir unsern heraldischen Gemeinderundgang mit einigen ausländischen Wappenbildern ab, dann steht verständlicherweise Frankreich im Vordergrund. lm Elsass beispielsweise tragen die Wappen von Bergheim, Bourgfelden, Brumath, Fort Louis, Erstein,Huningue, Marlenheim, Neuf-Brisach und Reichshoffen das Lilienmotiv. Unter den französischen Grossstädten andererseits weisen unter anderem die Wappen von Paris, Lyon, Lille, Brest und Rouen die Lilie auf.
Wappen 2
Sehr verbreitet ist das Lilienmotiv auch auf dem Gebiet der geistlichen und weltlichen
Herrscher- und Familienwappen. Zur Demonstration der vielfältigen gestalterischen Verwendungsmöglichkeit der Lilie seien die beiden nachfolgenden ausländischen Beispiele ausgewählt:
Wappen 7
Auf Allianzscheiben im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich treffen wir auf folgende Familienwappen mit Lilienmotiv: Ammann, Schmid, Strickler, Pfyfer, Muntprat und lm Feld.
Auf verschiedenen Grisaille-Scheiben findet man im gleichen Museum die mit einer Lilie geschmückten Wappen der Familien Aberli, Fässi, Wyss, Hess, Hottinger, Pfenniger, Schneeberger und Muralt.
Ganz besondere Beachtung verdient im Blick auf die mit einem Lilienmotiv geschmückten Familienwappen das von den Lysser Personalburgern herausgegebene Buch «Aus der Geschichte der Lysser Waldungen››, das in einem farbigen Anhang die vom Heraldiker und Holzschnittkünstler Paul Boesch (1889-1969) entworfenen und beschriebenen Wappen der Lysser Burgergeschlechter enthält. ln vielen dieser neugeschaffenen Familienwappen wurde, wie die nachfolgende Abbildung zeigt, verständlicherweise die im Gemeindewappen dominierende Lilie als heraldisches Motiv mitverwendet.
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Schliessen wir unsern kurzen heraldischen Exkurs rund um das Lysser Wappen mit dem Hinweis ab, dass verschiedene ortsansässige Firmen und Vereine ihr Signet mit der Lilie schmücken, beispielsweise das Kunstkollegium, das Reisebüro Lyss, die Kreditkasse Lyss das Hotel «Weisses Kreuz» oder das Restaurant Rössli. Erwähnt sei aber auch der Umstand, dass die Schweizerischen Bundesbahnen zur Erinnerung an das hundertjährige Bestehen der Eisenbahnlinie Bern-Lyss-Biel eine Lokomotive des Typs Ae 6/6 auf den Namen «Lyss›› tauften und mit dem Lysser Gemeindewappen schmückten. Die Lokomotive stammt aus der Serie 11451-11520, deren Maschinen den Namen von schweizerischen Verkehrszentren tragen. Die Lokomotive «Lyss›› trägt die Nummer 11505, wurde am 16. Dezember 1963 in Betrieb genommen und folgte auf die Lokomotiven «Thun››, «Burgdorf» und «Langenthal››.