Aarberger Strafexpedition 1630
Aarberger Strafexpedition gegen Lyss Anno 1630
Am ersten Sonntag gegen Abend im Monat September des Jahres 1630 sassen in der «Krone» zu Aarberg am rundenTisch die Stammgäste Ulrich Wäber, der Bader, der Glaser Hans Kilian, Peter Salchlin, die beiden Metzger Peter Gol und Hans Salchlin, der Weibel Peter Ebischer und Nicli Stuffenecker. Sie sprachen über den grossen Krieg, der nun schon seit zwölf Jahren jenseits des Rheins wütete.
Wie glücklich war man doch, dass die Eidgenossenschaft bisher vom Kriegswesen verschont blieb, ja, im Gegenteil, eigentlich sogar Nutzen aus der internationalen Lage zog: immer mehr Waren- und Tierstransporte bewegten sich auf der verhältnismässig sichern Handelsroute von Lyon, dem bedeutendsten westeuropäischen Börsen- und Messeplatz damaliger Zeit, her über Genf, Lausanne, Moudon, Murten, Aarberg, Lyss, Büren, Solothurn und über den obern Hauenstein nach Basel und Süddeutschland. Pferde vor allem waren dort gefragt, und der Kronenwirt in Aarberg, Hans Rudolf Kistler, konnte immer wieder seine Stallungen vorteilhaft an sogenannte «Eseltrybem, wie damals die Pferdehändler auch genannt wurden, abgeben. Das brachte zusätzliche Übernachtungen für das Begleitpersonal, zusätzliche Einnahmen aus Mahlzeiten, Getränken oder aus Verkauf von Hafer. Doch in letzter Zeit stellte er fest, dass solche Pferdetransporte nicht mehr in der «Krone» anhielten, sondern Richtung Lyss weiterzogen. Was steckte wohl dahinter?
Er trat an den runden Tisch und lenkte vorsichtig das Gespräch auf diese Tatsache. Der Bader Wäber, allgemeinals «Stadtzeitung» bekannt,wusste scheinbar zufällig zu berichten, dass der Wirt Rudolf Schädelin in Lyss gesagt habe, er wolle dem Kronenwirtin Aarberg schon noch «Dreck in die Suppe werfen»; er verlange weit weniger für Übernachtungen als Kistler.Solche Neuigkeit erboste vor allem auch die zwei Metzger Gol und Salchlin, denn sie hatten schon seit einiger Zeit gemerkt, dass sie weniger Fleisch in die «Krone» liefern konnten. Mitten im Gespräch hörten sie Pferdegetrampel von der hölzernen Brücke her.
Sie traten an die Fenster. «He», rief der Kronenwirt, «das ist ja der welsche Eseltryber, der immer bei mir Rast hält; nun gibt’s gute Arbeit! Wieviel Pferde bringt er? Zwei, vier, sechs, - ja, ein gutes Dutzend - schöne Tiere! Der hat immer prima Ware. Aber, zum Teufel - der hält ja nicht an, der reist vorbei! Das ist doch der Gipfel!» Das wollte und konnte der Kronenwirt sich nicht weiterhin gefallen lassen. «Nyd und Kib» gegen den Pferdehändler und vor allem gegen den Wirt Schädelin in Lyss machten ihn kochen vor Wut und veranlassten ihn zu direktem Handeln. Kurzum forderte er die Stammgäste auf, mit ihm nach Lyss zu ziehen, um Rache zu nehmen, wobei er ihnen reichlich Tranksame versprach. Einhellig erklärten sie sich bereit, und damit es so recht nach einem Überfallaussehe, nahmen die Männer sogar zwei «füwerbüchsen» (Vorderlader) mit.
So erschienen sie spätabends im Wirtshaus zu Lyss -es gab damals erst eines - setzten sich in der einen Stube an Tische und bestellten Wein, den sie hastig tranken und abschätzend bemerkten, das sei einschlechtes «Gsüff», sie wollen in der andern Stube bessern bekommen. Der eigentliche Grund zu diesem Wechsel war, dass sich der «Eseltryber» mit seiner Begleitung eben in der andern Stube aufhielt, Dort fingen sie an zu pöbeln, nachdem sie «zwo oder dry ürtinen (Zechen) verbrucht und verthan». Sie hielten «spöttische Schimpfreden», wie später rapportiert wurde, trieben Unfug mit dem Hut eines Gastes und «haben die lüt schmächlich gevexiert», so dass daraus schliesslich eine allgemeine Schlägerei entstand.
Der Wirt Schädelin von Lyss griff selbst ein und schlug sich mit dem Bader Wäber von Aarberg. In diesem Augenblick löschte der Kronenwirt das Licht aus, so dass niemand mehr wusste, wer «fründ oder fyend ist». Er glaubte, jetzt sei die beste Gelegenheit geboten, dem Eseltreibereins heimzuzahlen. Doch Peter Gol verhütete das Schlimmste; als der Kronenwirt gegen den «Eseltryber die fust zucken wöllen», sagte Peter zu ihm: «ich bitt dich durch Gottswillen, thu es nit, denn du weysst wol, was wir hüt than hend.» Als sie dann endlich «gnugsam tobt und gewütet,» verliessen sie nach Mitternacht das Wirtshaus, nicht aber ohne mit den zwei «füwerbüchsen» neuen Unfug zu treiben. Der Weibel Ebischer, der sich im allgemeinen Kampfgewühl eher zurückhaltend verhielt, jedoch dem Weine umso kräftiger zugesprochen hatte, liess vor dem Wirtshaus im Fortgehen plötzlich «ein schuz» los, und der Kronenwirt «that auch ein schuz», sozusagen als Abschluss eines geglückten Racheaktes.
Aber das war kein Abschluss: denn besagter Nachtlärm richtete «grosse unruw und ergernuss» an, und der Sonntag war «entheiligt» worden nach Ansicht des Prädikanten. Folge: der ganze Handel kam vor das Chorgericht, und was die Lysser heute wohl sonderbar anmutet: die namhaften Männer aus Aarberg mussten sich vor dem Chorgericht zu Lyss verantworten.
Dieses war am 26. Oktober 1629 von Abraham Walther, Vogt zu Aarberg und Burger von Bern, auf eine einjährige Amtsdauer neu besetzt und vereidigt worden und zwar mit folgenden Chorrichtern: Daniel Ris, Meyer (Präsident), Steffan Möri, Statthalter (Stellvertreter), Beisitzer: Conrad Arn, Bendicht, Durs und Steffan Löffel, ob Linser und ImmerStruch, Weibel. Prädikant Balthasar Beck führte das Protokoll. Am Sonntag, dem 12. September 1630, erschienen also die acht Bürger von Aarberg und Rudolf Schädelin, Wirt zu Lyss, als Angeklagte. Man nahm sie ins Kreuzverhör und fragte, warum sie eigentlich nach Lyss gekommen seien. «Wir haben das achram im Lysswald schouwen wellen», gaben sie als Vorwand an. Hiezu folgende Erläuterung: «achram» oder «acherrum» hat allgemein mit Nutzung zu tun; an anderer Stelle spricht man von der Verteilung des «achramgelts». In unserem Falle handelt es sich besonders um die «Bichelmast». Offenbar bestand damals der Lysswald grossenteils aus Eichen und Buchen, und zu gegebener Zeit erlaubte man das Sammeln der Eicheln und Bucheckern, oder die Schweine - auch aus umliegenden Ortschaften - durften gegen ein Entgelt in den Lysswald getrieben werden, damit sie sich an den Eicheln fettfressen konnten. Viele Aarberger machten von diesem Recht Gebrauch.
Das Chorgericht von Lyss bezweifelte jedoch mit Recht diese Ausrede der Aarberger; es hat «dies unglöüblich zu syn bedunkt», denn die Radaubrüderhatten ja doch behauptet, sie seien an jenem Nachtmahlsonntag zweimal in Aarberg zur Predigt gegangen; drum wäre es schon viel zu dunkel gewesen, das «achram»zu beschauen, als sie nach Lyss kamen. Schliesslich mussten die Angeklagten alles bekennen, und sie wurden ernstlich «zensuriert». Ganz besonders wurde ihnen auch angekreidet, dass sie im Wirtshaus «mit dem frömden, ungewohnlichen und schädlichen Taback vil wunder und abenthür geübt haben». Tabak rauchen oder Tabak trinken, wie man damals sagte, war offenbar den Chorrichtern von Lyss noch fremd.
In diesem Punkt waren die Aarberger den Lyssern mehr als eine Nasenlänge voraus. Man muss aber auch wissen, dass der Tabak erst von Jean Nicot, einem Gesandten der Catherine de Medici, zwischen 1530-1600 aus Spanien nach Frankreich importiert wurde, und so erreichte er von Frankreich her natürlicherweise Aarberg vor Lyss. (Nebenbei: diesem Jean Nicot haben wir das Wort «Nikotin» zu verdanken.) Schliesslich fällte man das Urteil: der Bader Wäber von Aarbeıg und der Wirt Schädelin von Lyss als Hauptschlägersollen 24 Stunden «in die gfangenschaft yngspert werden und ein jeder 10 pfund buss gäben»; alle übrigen sollen ebenfalls jeder 10 Pfund bezahlen und «sind hienäben all zur nüchterckeit, friden und gottforcht vermant worden».
Man muss anerkennen, dass das Chorgericht von Lyss unparteiisch, also ohne Ansehen der Person geurteilt hat: die beiden Kampfhähne Wäber von Aarberg und Schädelin von Lyss wurden gleichmässig bestraft, wobei man dem Wirt Schädelin besonders vorwarf, er habe die Zecherei der Aarberger eher gefördert als verhindert. Die 24 Stunden musstenin der «kefi» zu Aarberg abgesessen werden. Man könnte sich freilich fragen, ob nicht dem Hauptanstifter, dem Kronenwirt von Aarberg, ein besonderer Denkzettel gehört hätte; aber vermutlich erwogen die Chorrichter, er habe schliesslich mehrere «ürtinen» (Zechen) bezahlt - oder spielte doch etwas «Wirtschaftspolitik» mit? Das gute Einvernehmen zwischen Aarberg und Lyss schien im übrigen durch diese Vorkommnisse in keiner Weise gefährdet; die Chorrichter beider Orte hielten sich an den Grundsatz, dass Vergehen von jenem Chorgericht geahndet werde,in dessen «Kilchhöri» es geschehen sei.
So musste beispielsweise später Peter Arn von Lyss vor dem Chhorgericht in Aarberg erscheinen, weil er in der «Krone» zu Aarberg sich allzu unvorsichtig geäussert hatte.