Niggi von Ottiswil
Er war ein richtiger Pechvogel; an der Chilbi in Messen verliebte er sich in ein Mädchen. Das würde einmal seine Frau sein, glaubte er, mit der er als jüngster der drei Söhne des Caspar Bangerter zu Ottiswil eines der beiden Heimwesen übernehmen wollte.
Seine fleissigen Gänge nach Messen auf diese Chilbi hin brachten ihn scheinbar diesem Ziele näher, denn das Mädchen erwiederte seine Liebe. Mit der Zeit wussten die Nachbarn um diese Pläne, und da die Auserwählte rundlichere Formen annahm, drängten auch die Eltern auf eine Heirat. Doch da kam die erste Pechsträhne: die Braut erkrankte an einem langwierigen Leiden. Sie wurde bettlägerig und
siechte dahin. Offensichtlich musste eine Nottrauung stattfinden, damit das erwartete Kind ehelich geboren würde. Aber das Unglück nahm seinen Fortgang: die junge Mutter und das Kind starben im Kindbett und wurden auf dem Friedhof in Messen ins gleiche Grab gelegt.
Niggi, schon von Kind auf eher scheu und in sich gekehrt, mied von da an jede Lustbarkeit. Man sah ihn auch nie im Wirtshaus. Seinem Bruder Hans, dem Zimmermann, sagte er: «Du übernimmst das Heimwesen; ich kann nicht; ich helfe dir, wenn du mich im Stöckli allein hausen lässt.›› Hans passte das nicht schlecht. Seinerzeit vermeinte er, ein Handwerk erlernen zu müssen, da für ihn auf dem elterlichen Hofe kein Platz sei; so wurde er Zimmermann, und zwar ein tüchtiger; denn im Gegensatz zu Niggi war er angriffig, der Welt zugewandt und überlegte nun richtig: Wenn ich den Hof übernehme, kann ich dann zusätzlich zwischen Saat und Ernte sowie in der Winterzeit meinem Zimmermannberufe nachgehen. So Wurde er mit seinem Bruder eins. Niggi zog ins Stöckli, Hans übernahm den Hof. Er hatte schon so viel Erfahrung, dass er sich gar als Zimmermeister aufspielen konnte, besonders, da ihm seine Frau in finanzieller Hinsicht die nötige Hilfe eingebracht hatte.
Sein Gewerbe liess sich gut an. Mit den Jahren war er ein geschätzter Zimmermeister in den umliegenden Dörfern; und er verstand auch, die Beziehungen nach allen Seiten zu pflegen; er ging abwechslungsweise in Lyss, Grossaffoltern und Messen zur Predigt. Und obschon Ottiswil damals zur <<Kilchhöri›› Lyss gehörte, scheute er sich nicht, fleissiger nach Messen und Grossaffoltem zum «Heiligen Mahle des Herm» zu gehen, wenn dort Bauaufträge in Aussicht stunden. Das ging gar so weit, dass man ihn einmal vor das Chorgericht in Lyss zitierte und beschuldigte, «dass er an keinem von beyden Sonntagen letztverwichener Passionszeit zum Tische des Herrn gegangen seye››.
Auf seinen Einwand, dass er am ersten Sonntag zu Messen und am andern zu Grossaffoltem zum Tisch des Herm gegangen sei, reagierten die Chorrichter eher sauer und verlangten, «dass er dessentwegen eine glaubwürdige Attestation vom Herrn Prädikanten zu Grossaffoltern einer Ehrbarkeit überbringe, daraus man sehen könne, dass sein Vorgeben nicht falsch, sondern wahrhaft sey››.
In einem Nachsatz zu diesem Protokoll fügte der Prädikant einige Tage später bei: «hat si gegeben» Schon früher einmal war das Chorgericht von Lyss einem Bangerter sowie übrigens vielen anderen von Ottiswíl, Weingarten und Ammerzwil aufsässig Wegen «saumsäligen Kirchganges››. So lesen wir unterm 16. November 165l 1 «istzitiert worden Bendicht Bangerter, der Alt, den man sonst Rot namset, wegen dass er yez nun ettliche Jar gar liederlich allhar z”Predigt gaht, und aber sonst mithin umb einanderen zücht und schlycht.>› Man sprach auf ihn ein und mutete ihm wenigstens zu, «dass er ettliche Mal in Sommerzytt, wenn es warm und die Tage lang sind, oder doch an hochen Festtagen wol köntte harkon oder rytten››. Der Angeklagte erwiderte, «er syg nun mehr alt, schwach und blöd und mög nit erlyden z`gahn; er gange vilmalen gen Affoltren; er wölle Zügsamme (Zeugen) dadannen bringen››.
Aber das Chorgericht liess solches nicht voll gelten; der Meyer mahnte ihn, «wenn er möge flyssiger z”Predig gahn, thue ihme das selber gut>›, und «da er sich mit Kleidern, Spys und Tranck wol ze versorgen vermag, wyl er‘s doch wol hatt, sol er dem Chorgricht fünf Schilling erlegen››.
Auch Niggi Bangerter wurde vorgeladen; aber da müssen wir noch einiges vorausschicken. Niggi, wie angedeutet, zog sich ins Stöckli zurück, holte täglich bei
Hans eine Mass Milch, bezog jede Woche seinen Vierpfünder. Eier lieferten ihm zur Genüge seine eigenen Hühner, die er aufs sorgfältigste betreute und in seiner Hofstatt hinter dem Stöckli frei laufen liess. Sie beinelten zu ihm hin, sobald er erschien; denn immer brachte er ihnen etwas zu fressen, und ungescheut pickten sie aus seiner Hand. Ja, es fiel den Nachbarn auf, wie der sonst so verschlossene Niggi mit seinen Haustieren plaudern konnte. Er besass nämlich nicht nur seine Hühner. Zwei Dackel waren seine ständigen Begleiter, aber auch der grosse Bäri, den er regelmässig morgens und abends vor den Milchkarren spannte, kam tagsüber ins Stöckli, wenn er merkte, dass Niggi daheim war. Dies hatte seinen besondern Grund: wenn die Bauern Metzgete hielten, sparten sie unbrauchbares Fleisch wie Lunge, kranke Leber usw. für den «Einsiedler Niggi>›, wie er etwa genannt wurde. Als ob er es riechen könnte, erschien er und holte dieses <<Abgähnds>› und kochte es daheim im Stöckli auf dem niedern Herd für seine Tiere. Nie würde er es ihnen roh verfüttert haben; irgendwie ahnte er, dass durchs Kochen das Ungesunde an Lunge und Leber abgetötet würde und seinen Lieblingen nicht mehr schaden könnte.
Nur zum Mittagessen begab er sich an des Bruders Tisch. Er gehörte ja sozusagen zur Familie; denn immer, wenn man ihn nötig hatte für irgendeine <<Handreiche››, war er gleich zur Stelle. Man musste ihn freilich darum bitten, das heisst «bitten›>? - nein, das nicht; es genügte, wenn man ihn fragte, ob er dies und das tun könnte. Aber von selbst meldete er sich nicht, ausser für den schon erwähnten Gang zur Käserei mit Bäri, solange des Bruders Kinder dies noch nicht tun konnten. Und es schien fast so, als ob er es diesen Kindern zuliebe täte, denn der schweigsame Einsiedler war scheinbar vemarıter in sie als ihre eigene Mutter. Wie konnte er ihnen doch Geschichten erzählen! Aber niemand sonst durfte zuhören. Deshalb gingen sie, wenn immer möglich, zu ihm ins Stöckli und bettelten um ein «Gschichteli›>.
Da erzählte er ihnen, wie letzthin junge Füchslein drüben im Walde miteinander spielten, wie sie einander nachrarınten, über einander purzelten, einander an Schwanz oder Ohren packten und dann blitzschnell in eine Höhle verschwanden. Ein andermal wusste er ihnen von winzigen Zwerglein zu berichten, wie er sie beobachtet habe im Finizwald: über ein kleines Leiterchen seien sie auf einen mächtig breiten Fliegenpilz hinaufgeklettert. Ein Zwergenmannli habe auf einer Geige gespielt. Ein anderes hopste
mit einem jungen «Zwergenmeitlin›>, schön wie ein Engelchen, so übennütig über den Platz hinweg, dass es plötzlich dahinfiel, über den Rand des Pilzes hinunterrutschte und auf einem Stein unten dran das Genick brach, dass es tot liegen blieb. Wie traurig waren da die Zwerglein, als sie es unter der grossen Tanne vergruben!
Niggi konnte das so überzeugend schildern, dass die kleinen Zuhörer kaum noch Fragen stellen durften, denn sie sahen grosse Tränen über seine Backen rieseln.
Aber an vielen andern Tagen gab es keine Geschichten zu hören, denn da ging Niggi mit seinem Bruder auf die Arbeit. In Messen bauten sie ein grosses Bauernhaus, eines mit fünf Hochstüden. Schon ruhte der schwere Firstbalken auf diesen senkrecht stehenden Stützen. Seit mehreren Tagen waren die Dachdecker an der Arbeit. Mit
gebundenem, auserlesenem Roggenstroh in Form von sogenannten Schauben wurde das steile Dach erstellt. Die ganze Fläche mit Ziegeln zu decken, wäre zu schwere Belastung gewesen für die verhältnismässig dünnen Dachrafen und Dachlatten. Deshalb beschränkte man sich darauf, nur vier Reihen Ziegel ganz zu oberst anzubringen, da die Firstlinie naturgemäss am meisten unter den Witterungsverhältnissen litt. Niggi räumte unten Holzabfälle weg. Da plötzlich spürte er nur kurz einen heftigen Schlag auf seinem Kopfe und fiel bewusstlos dahin. Einem Dachdecker war ein Ziegel entwischt. Der Warnruf kam zu spät. Niggi musste auf einem Karren heimgeführt werden, wo er einige Tage im Bett lag und ganz wirres Zeug redete. Dann endlich konnte er aufstehen, aber er schien sich nochmals ganz verändert zu haben. Von den Kindern wollte er nichts mehr wissen. Besonders, wenn sie lärmend im Hofe herumtollten, konnte er plötzlich gegen sie losdonnern, dass sie sofort in der Stube verschwanden. Jedes laute Lärmen schien ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Ja, er schloss sofort die beiden Fenster im Stöckli, wenn sein Bruder die Sense zu dengeln begann. Offensichtlich war er überaus lärmempfindlich geworden durch seinen Unfall. Seine Menschenscheu verstärkte sich sehr. Einzig mit seinen eigenen Tieren schien er noch zurechtzukommen. Mit den Dackeln schritt er gegen den Wald, Richtung Scheunenberg, und er kam erst nach Stunden wieder heim. Wo er umherirrte? Man wusste es nicht so recht, doch wollten ihn einzelne mehrmals auf dem Friedhof in Messen gesehen haben. Man liess ihn gewähren, denn die Ruhe im Walde schien ihm wohlzutun, machte ihn Verträglicher - bis - nun ja, bis er eines Sonntags mit seinen Hunden - diesmal war auch Bäri dabei - in ungewohnter Richtung, nämlich gegen die Hardern davonzog in jenen stark mit Eichen und Buchen
durchsetzten Wald, in dem die umliegenden Bauern ihre Schweine frei laufen liessen, damit sie sich an den Eicheln und Eckern fett fressen. Wie Niggi mit seinen Hunden erschien, schreckten die Schweine besonders vor Bäri auf. Als ob sie Gefahr witterten, bewegten sich die hochbeinigen Rochler wie eine angriffige Meute gegen die Eindringlinge und verübten einen Höllenlärm. Das brachte Niggi derart aus dem seelischen Gleichgewicht, dass er wie rasend zu schreien anfing, mit Ästen gegen die Schweine loszog und sozusagen den ganzen Wald in Aufruhr versetzte, dass die Bauersleute aus der Hardern dahergerannt kamen, mit Gabeln und mit Stöcken bewaffnet, als ob es, wie sie befürchteten, um die Auseinandersetzung mit einer Räuberbande ginge.
Wie der Handel einen Austrag nahm,kann man sich ungefähr selbst reimen. Auf alle Fälle musste Niggi später vor dem Chorgericht erscheinen. Man hielt ihm vor, «Was er sinne, dass er zu einer solchen Zeit mit Hunden durch den Wald gienge?›› und «er habe nit nur grausam Wider die Schwein, so seine Hünd angeloffen, gewütet, sonder habe auch schröcklich gefluchet und darbey sich mercken lassen, die Hirten mit Streichen zu empfahen, wann sie nicht geflohen wären››.
Er konnte sich nicht an alles erinnern, Was sie ihm vorhielten. Doch bat er die Ehrbarkeit um Verzeihung, und die Chorrichter fällten, nach ihrer Meinung, ein mildes Urteil,lautend: «Es hat aber ein Ehrbarkeit, Weil sie leichtlich gesehen, dass ihmme zu Zeiten ein Ziegel im Haupt verrücket, sy ihmme neben einer scharpffen Censur nit mehr zur Wahrnung auferlegen wollen als zehn Schilling»