Annelin Mülchi
Stephan Mülchi war Chorgerichtsvorsitzender, sogenannter Meyer, von 1686 bis 1713, also doch wohl eine geachtete Persönlichkeit, was für jene Zeiten darauf schliessen lässt, dass er wohlhabend, begütert war. Er besass keinen Sohn, deshalb starb sein Geschlecht in Lyss aus; aber seine drei Töchter waren um so begehrter. Die zwei ältern gingen weg wie «heisse Weggli››, und mancher Bursche mochte fast nicht warten, bis die jüngste, das Anneli, heiratsfähig wurde. So sagte Hans Braun von Suberg, einer der Bewerber, vor Chorgericht aus, dass er schon «vor etlichen Jahren von Ihme, Meyer Mülchi, seine mittlere Tochter zur Ehe begährt, Welche Er ihm abgeschlagen, aber Hoffnung gemacht, dass, wan Er seiner jüngeren Tochter, dem Annelin Erwarten wolle, Er ihm lieber dasselbe zur Ehe geben wolle, und nachdem Er nun dem Annelin vier Jahre lang abgewartet und inzwüschen sowohl den Eltern als der Tochter allerley
Verehrung gethan und es auch in währendcr zeit zum offteren umb die Ehe ersucht, heige Es Ihme am letsten Büren Märit zu Bütigen im Wirthshaus die Ehe aufrecht und redlich versprochen und daraufhin einen silbernen gürtell empfangen, welchen es mit Ihm heimgetragen»
Damit glaubte Hans Braun, der Heirat mit Annelin Mülchi stünde nichts mehr im Wege; denn ein silberner Gürtel galt als sogenanntes Ehepfand damals soviel wie heutzutage ein Verlobungsring. Doch es sollte anders kommen. Einige Zeit später schickte Meyer Stephan Mülchi Hans Braun den Gürtel zurück, und was noch schlimmer war: er hörte sagen, Mülchi habe seine Tochter einem andern versprochen.
Hans war wie aus den Wolken gefallen. Sollte das Versprechen eines Chorrichters und noch Meyers dazu nichts mehr gelten? Hatte ihm doch sein Vater verraten, Mülchi sei einverstanden mit der Heirat. Und Anrıelin? Hatte es nicht das Ehepfand angenommen? Auch Hansens Vater, Hippolit Braun, war aufs äusserste aufgebracht. So etwas durfte man nicht ohne weiteres hinnehmen. Vater Hippolit Braun wurde persönlich vorstellig beim damaligen Landvogt von Graffenried in Aarberg,und so kam es am 7. Juni 1696 in Anwesenheit des Landvogtes vor dem Chorgericht in Lyss zu einer Auseinandersetzung zwischen Meyer Mülchi und seiner Tochter als Angeklagten und Vater Hippolit und Sohn Hans Braun als Klägern. Hans Braun, der Sohn, machte geltend, «dass ungeachtet Er den Gürtell widerumb zu sich genohmmen, dass Er der Erste und necher recht zu der Braut habe, und zwar umb so viel desto mehr: weilen Er, Meyer Mülchi, seinem Vater Hippolit in bysein Ehrlicher leüten seine Tochter Ihme versprochen mit disen Worten: dass Er ein kätzer sein wolle, wan Er seine tochter einem andern lassen wolle als seinem Sohn.››
Vater Hippolit Braun doppelte nach, er sei bereit, Stephan Mülchis Versprechen durch Zeugen zu beweisen, und was ebenso oder noch wichtiger sei: er, Hippolit, wolle «beweisen, dass damahlen, als der Predikant zu Affoltern für Ihne, Hannss, eine anwärbung gethan (der Pfarrer funktionierte hier also als Heiratsvermittler), dass dies des Meyers letster abscheid (Ausspruch) gsin seige: Er hoffe, der Hannssli werde disen abend selbsten kommen, seine schuldigkeit zu leisten: vermeine demnach eine rechtmässige Eheansprach an Ihnss, das Annelin, zu haben, dessentwegen Er eine gesammte Ehrsamkeit (Chorgericht) umb vätterliche handbietung demütigst ersuche.››
Hierauf wurde Annelin selbst verhört, und es sagte aus: «dass es Ihme, Hannss Braun, die Ehe niemahlen versprochen›>, wohl habe es den silbernen Gürtel empfangen, aber keineswegs als Ehepfand, «sondem nur auf schauen hin; Er heige Ihm denselben nit in die hand , sonder in sack gestecket» Und Vater Mülchi verteidigte sich: «Er heige ihm die tochter für seinen Sohn wohl versprochen, wofem die tochter willig seige und anderst nit. Nun aber heige Er sie seithar dem Wirth zu Rüti versprochen, gegen welchen sich das Annelin in bysein des Vatters und der Mutter ehrlich verpflichtet.››
Da Hippolit Braun darauf beharrte, Zeugen zu stellen, also ein sogenanntes Gastchorgericht verlangte, musste die Verhandlung unterbrochen und auf den nächsten Chorgerichtstag verschoben werden.
Inzwischen stellte der Landvogt fest, dass Mülchi sogar einem Dritten sein Annelin versprochen hatte, freilich auch nur «mit dem geding, wan dessen Sohn das Annelin darzu bereden könne››.
Der ganze Handel schien dem Chorgericht und Landvogt so schwerwiegend, dass man beschloss, den Schlussentscheid dem «Oberen Chorgricht» in Bem zu überbinden.