Caspar der junge Wirt

Caspar, der ältere Sohn der Wirtin Krachbelz, musste schon als Knabe überall einspringen und den verstorbenen Vater so weit möglich ersetzen; er tat es anfänglich willig und gehorsam; dann aber, wie er selbständiger zu denken und überlegen begann, entwickelte sich in seinem Wesen ein geradezu übertriebener Erwerbssinn, dem er alles unterordnete: Vorschriften und gesetzliche Bestimmungen liess er nur gelten, solange sie ihm nützten; gutgemeinte Ratschläge und Weisungen seiner Mutter wies er kaltschnäuzig zurück. Er fühlte sich erwachsen; er glaubte, alles besser zu wissen als alle übrigen im Betriebe.

Die „Krachbelzin“ - wie die Wirtin etwa im Dorfe genannt wurde - erschrak so sehr ab solch rücksichtsloser Selbstherrlichkeit ihres Sohnes, dass sie bald hier, bald dort ihre Angst und Sorge vom Herzen reden musste. Sie bat um Rat und Hilfe bei Nachbarn, bei Chorrichtern, bei der Frau des Prädikanten, so dass schliesslich das Chorgericht davon Kenntnis nehmen und als Hüterin des sittlichen Wohlergehens seiner Dorfgenossen diesen Fall behandeln musste.

Und da kam nun allerhand zutage, das nach damaliger Auffassung nicht in Ordnung war.

Wir lesen: «Diewyl des Caspars, des wirts Mutter, Anni Krachbelz sich vil und dick (oft) by Chorrichteren und anderstwo ab ihres Sohnes ungchorsame erklagt, ist hierüber der Weybel, der vilmalen sich im Wirtshus befindt, gefragt und verhört worden, Welcher züget, er, Caspar, schnauwe sin Mutter an und folge nit allemal, was sie ihn

heisse.›› Der Prädikant ergänzte: «es habe die Wirti verschinnen (verfloss-

nen) jahres der Predicanti (seiner Frau) ab ihrem Sohn erklagt, sie dörfe nit ein Fass anstechen, wenn es nit sin willen siege; er schnauwe sie an. Da habe sie zu ihren (der Wirtin) gseit, sie sölle ein guten Bengel nemmen und ihn (Caspar) damit erberen (ausschmieren).›› Auf diesen Ratschlag habe die Wirtin nur geantwortet, «sie müsse etwas anderes förchten›>.

Der Chorrichter Bendicht von Dach, der Schmied in der unteren Schmiede, erzählte, «Sin frouw, als sie wyn greicht, heige gseit, die wirti heige zu ihren gsagt, sie fürchte, sie werde noch Schand und Schmach an ihm, dem Caspar, erleben. Er, der Schmied selbs züget, der Caspar gebe der Mutter fuhlen, bösen bscheid, dass sie schwygen müsse»

Der Statthalter Peter Arn <<züget, dass Caspar ihn hinderrucks vor den gesten im Wirtshus einen Bederhalben gheissen heige›>, ferner, «dass er den wyn umb einen halben Bazen thürer gebe, dann er geschetzt sige››.

Nebenbei bemerkt: Peter Arn war damals „wynschetzer“ von Amtes wegen, der das Recht und die Pflicht hatte, neugekauften Wein im Keller zu kosten und den Preis festzusetzen. Aber nicht genug damit: als man Caspar deswegen ins Pfrundhaus vor Chorgericht zitierte, «war er nit allein nit erschinen, sonder hatte trotzigklich gesagt, er habe nüt da oben zu thun; wenn man ihn für Chorgricht bschicken welle, so heige man es ihm am tag zuvor söllen kundt tun››. Und übrigens, «er sige nit schuldig, im pfrundhaus zu erschinen, wir söllen Chorgricht halten, wo wir söllen Chorgricht halten; er welle in der kilchen oder im Rathaus bscheid gän.››

Als Caspar dann acht Tage später doch vor Chorgericht erschien, «und ihm auch fürgehalten worden, worum er den Wyn thürer verkauft habe, weder er ihm gschetzt sige, gibt er zur antwort, man heige ihn zu Arberg auch umb fünfthalben bazen geben. Darauf der wynschetzer, Peter Arn, geantwortet, zu Arberg heige man gwonlich gu-

ten wyn, er aber lege mehrten theils schlachten yn, und welle ihn so thür gän als andere ihren guten; und wan (wenn) die zu Arberg mit dem Wyn ufschlagen, so müsse ers glich, aber wan sie abschlagen, so welle ers nit wissen.››

Das war aber noch lange nicht alles. Die Anklagen gegen den jungen Wirt häuften sich. Am 21. Juni 1663 gaben vor Chorgericht der Schulmeister Gäl und der Lumper

Spengler zu, am vergangenen Pfingstsonntag im Wirtshaus getrunken zu haben. Das musste dem Vogt in Aarberg angezeigt werden. Dieser, damals H.R. Fellenberg, liess vermelden, er werde selbst an der Chorgerichtssitzung vom 8. Juli in Lyss anwesend sein: man solle den Schulmeister, den Lumper und den jungen Wirt Caspar aufbieten.

Im Protokoll über diese Sitzung heisst es: «So ist auch erschinnen der Schulmeister Gäl und Stephan Spängler, der Lumper, welche häftig censuriert worden, dass sie am h. (heiligen) Pfingsttag im wirtshaus getruncken; dessglichen ist Caspar, der wirt, auch mit einer scharpfen und wolgestächleten Censur empfangen worden, dass er am Sonntag den hiesigen Lüthen im Wirtshaus statt und platz gibt, zu essen und zu trincken gibt, ist aber sonst umb kein gelt uf dissmal gestraft worden, sonder by dem gulden fol. 226 (ein früherer Straffall) ihme uferlegt, jezmal verbliben.›› Der Vogt liess also Gnade vor Recht walten, doch heisst es weiter: «Es hatt ihm aber der hochgeehrte Herr Vogt sölches Wirten an Sontagen gegen hiesigen lüthen abgestreckt und ernstlich verbotten, dargegen all dry zu yfriger heiligung dess Sabbaths angemant worden und Caspar vermant, dass er den Chorrichteren ins künftig besseren bscheid gebe.››

Aber was nützte dieses rücksichtsvolle Verhalten der Obrigkeit? «Am Frytag, den 28. Aug. sind vor Chorgericht erschinnen Joel Möri sampt siner frauwen und Peter Möri; sie warend beid beschuldiget, dass sie verschinnen (letzten) Sontag im Wirtshaus getruncken, hernach by dess wirts Scheüren znacht uneins worden, einanderen

gestossen und geschulten» Diesmal liess man keine Gnade walten. Wir lesen: «Sind censuriert worden und nach der sazung umb 3 kronen buss verfelt, darvon zwen

theil dem Herren Vogt und ein theil dem Chorgricht zudienet; beid auch für das nechtliche unwesen umb 10 schilling gestraft worden, und Wyl Peter Möri truzend geantwortet, er sige nit schuldig anzugeben, wer dozmal am Sontag im Wirtshaus getruncken, item vor Chorgricht gseit, er welle ein Schelm sin, wenn er zuerst den Joel gestossen heige, und sonst sehr liederlich ist, zu grossem schaden sines wybs und kinden, so soll er angentz in die gefzincknuss geführt werden. Er und Joel söllen nach der Reformation umb 3 kronen gestraft sin.››

Die Chorrichter urteilten nach dem Buchstaben des Gesetzes (der Reformation); aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen fühlten sie etwas Ungereimtes in der ganzen Angelegenheit. Vom Wirt sprach diesmal niemand. Wollte man noch mehr <<Material›› gegen ihn sammeln? Es scheint fast so; der folgende Abschnitt im Protokoll lautet nämlich: «So ist auch erschinnen HR. Bürgi, des Christen von Spins sohn, diewyl er eben an gesagtem Sontag im wirtshaus getruncken, dessen er anred ist (zugibt), wyl er aber nit sagen wellen, wer mit ihm getruncken habe, soll ihm verdanck (Bedenkzeit) gegeben sin bis morndrist.“ Auch Peter Möri wurde nicht «angentz in die gefäncknuss>› geführt; und wie sollten die zwei armen Schlucker die drei Kronen aufbringen? Das war für damalige Verhältnisse ein recht ansehnlicher

Brocken. Die Chorrichter selbst hatten schwere Bedenken. Also lieber warten, bis der Vogt persönlich wieder an einer Sitzung anwesend sein wird; er allein war kompetent, die gefallten Entscheide abzuändern.

Freilich gewährte man dem HRudi Bürgi nur einen Tag Bedenkzeit, doch der Prädikant musste folgende Bemerkung ins Protokoll schreiben: «Morndrist ist zwar HRudi Bürgi, Christens Sohn von Speis, item Caspar und sin Mutter, die Wirti, für Chorgricht citiert,

aber nit erschinnen.›› Endlich am 16. Oktober war es so weit: «in bysin des hochgeehrten Herren Vogts HR. Fellenbergs ist erschinnen vor gesamptem Chorgricht der obbeschribne HRudi Bürgi, der, obglich er am Sontag im Wirtshaus getruncken, glichwol ist ledig erkent worden under dem Fürwand, er heige nur ein halb mas getruncken, er sige us der Spinsmatten kommen, nit vom underen fäld.››

Die milde Beurteilung durch den Vogt ist augenscheinlich, und wir zweifeln nicht, dass ihm die Chorrichter mehrheitlich gerne beistimmten. So argumentierte man, da Bürgi von der Spinsmatten gekommen sei, gelte er als Durchreisender, den der Wirt straflos bewirten dürfe, um so mehr als er nur eine halbe Mass (7,5 dl) getrunken habe. In diesem Zusammenhang erinnern wir an die im Volke vertretene Meinung, auch Einheimischen dürfe der Wirt an Sonntagen eine halbe Mass Wein ausschenken. Darüber wird noch zu sprechen sein.

Dann heisst es weiter, dass am selben Tag auch wieder Peter Möri, den man «angentz in die gefäncknuss» stecken wollte, erschienen sei. Der Vogt fand «obiges urtheil der gefengknus halben» gerecht und bestätigte es. Hingegen die drei Kronen Geldstrafe fand er auch zu hart, und trotzdem er sich da «ins eigene Fleisch schnitt››, gab er sich anstatt mit zwei, nur mit einer halben Krone zufrieden, und auch

die <<Erbarkeit›› (die Chorrichter) erhielten dementsprechend weniger.

So schien die ganze Angelegenheit in bester Ordnung und erledigt zu sein; doch einen ominösen Schönheitsfehler hatte sie noch: Der Prädikant hielt schriftlich fest: «der Wirt und die Wirti sind widrum citieıt, aber nit erschinnen.››