Armut und Elend

Armut, selbstverschuldete und unverdiente, hat es zu allen Zeiten gegeben. Beim Durchstöbern der Chorgerichtsmanuale stossen wir auf dergleichen Fälle. So wurde zum Beispiel am 25. Februar 1638 Bendicht Körnli vorgeladen, «Wegen dass er gar liederlich syge, dem wyn vil nachzücht, und wenn er glychwol ein pfenning bekomme, syge derselbig angändz verthan, lasse hienäben synem wyb und kinden offtermalen grossen hunger, welche mängsmalen dry tag lang kein bitzen brot im huss haben››.

Zwischen den Zeilen können wir lesen, dass der Prädikant auf seinen Gängen durchs Dorf bei Körnlis diese traurigen Zustände an traf und nun dem sauberen Familienoberhaupt eindringlich die Leviten las. Aber das brachte den Herm Körnli nur in Harnisch. Er verteidigte sich «gar truziger Wyss, ob der predicant imme (ihm) das kom gän heige? Er müsse Wol synen sachen nachgahn, er könnte nit daheim blyben.›› Und er klagte auch seine Frau an: «wenn syn frouw syne sachen verrichtete, Wöllte er wol daheim blyben.›>

Die Chorrichter hatten offensichtlich genug von diesem Liederjan. Das Protokoll schliesst kurz: «diewyl kundtbar und offenbar gnug, dass er liederlich, ist er zur husshaltung, arbeit und bscheidenheit vennant, und um 10 schilling, wyl er truzigen bscheid gän, erkennt worden.›>

Ob damit die armen Kinderlein ihren «bitzen brot›› erhielten? Ein anderes Beispiel: «Hans Schwander, der deck im holz ussen›› wurde vorgeladen, «wegen dass er syn mutter schlechtlich in ehren haltet, iren hunger und mangel lasst, dürs und grüns obs (Obst) iren ynbschlüsst, das huss nüt verbesseret, in die stuben rägnen lasst, und nit mit der mutter theilt...››

Welche Vorkehren hat in diesem Falle das Chorgericht getroffen? Wir lesen nur: «Hans Schwander ist desswegen zur gottsforcht, zur liebe und trüw gegen syner mutter verrnant, und umb 10 schilling erkennt (bestraft) worden.›>

Ob das half? Vermutlich nicht viel. Die Lebensansprüche lagen damals viel tiefer als heute. Wenn die Kinder nichts zu essen hatten, nun ja, dann sollten sie eben betteln gehen. Und wenn es durchs Dach in die Stube regnete, ach ja, dass trocknete man einfach wieder auf.

In der Rechnung der Einwohnergemeinde Lyss pro 1972 stellen wir fest, dass der Aufwand im Fürsorgewesen Fr. 1‘388 986.75 betrug, wobei eigentliche Annenunterstützungen über 300‘000 Fr. beanspruchten.

Wie war's vor 350 Jahren? Da heisst es nur, dass «den Armen in zimlichckeit handreichung geschehe››. Man liess sie wohl nicht verhungern; aber nicht wenige wurden zu Bettelei, zum sogenannten «Almusen höüschen» verleitet oder gar gezwungen. Wie schwer es viele dieser Ärmsten traf, möge folgendes Beispiel zeigen: «Catryn Rösslin, die Süwhirtin››, ging «gar schlächtlich und liederlich z'predig›>, ja noch schlimmer, man sah sie «bisswylen under und zwüschen der predig holz näben und by der kilchen fürtragen.››

Das war nach damaliger Auffassung eklatante Sonntagsentheiligung und musste, entsprechend der Satzung der gnädigen Herren in Bern, geahndet werden. Deshalb wurde Catryn Vorgeladen und zur Rede gestellt. Da sagte sie ganz einfach: «sy habe ein alte übelmögende (gebrechliche) mutter daheim und kleine kind, sy müsse denselbigen fahl und rhatt thun.››

Die arme «Süwhirtin›› kannte keinen Achtstundentag, sie hatte weder Samstag noch Sonntag frei. Alle ihre Zeit, alle ihre Arbeit opferte sie für die Hilflosen ihrer Familie. Diese Tatsache beeindruckte immerhin auch die Chorrichter. Catryn wurde «zu Gottes wort und desselbigen besuchung und zum gebett vermant,›› aber ohne Busse entlassen. Damit war für sie der Fall erledigt. Wir aber sagen: alle Hochachtung vor Catryn, unserer armen «Süwhirtin››.