Anna Krachbelz
Das einzige Wirtshaus in Lyss war in mancher Beziehung das eigentliche Dorfzentrum, und deshalb kannte jedermann auch Anna Krachbelz, die Wirtin.
Sie hatte drei Kinder: Caspar, Salome und Níggi. Ein viertes verlor sie infolge einer Frühgeburt, daran der <<Bruchschnyden› Aebi in Büren nicht ganz unschuldig befunden wurde. Warum? Anna Krachbelz fühlte eines Tages heftige Leibschmerzen, fast nicht mehr zum Aushalten. Da schickte sie ihren Mann zum Arzt; aber in Lyss gab’s damals noch keinen solchen. „Soll ich nach Biel zum Dr. Parlingohr oder zum Bruchschnyder Aebi in Büren?“ fragte er. Anni zog Aebi vor; seine „Purgatzen“ wa-
ren als sehr wirksam bekannt; und ausserdem war Dr. Parlingohr viel teurer. So ritt denn der Krachbelzen Mann im Galopp «gan Büren» und brachte eine schmerzstillende Tranksame heim.
Dieser Trank aber rumorte so in Anna Krachbelzens schmerzendem Leib, dass sie schliesslich, wie schon erwähnt, ihr viertes Kind durch Frühgeburt verlor.
Kein Wunder, dass über diesen Fall ein regelrechtes Wirtshausgerede entstand und zu allerlei Verdächtigungen führte, so dass schliesslich selbst das Chorgericht sich gezwungen sah, der ganzen Angelegenheit seine Aufmerksamkeit zu schenken, umso mehr als auch von den Dienstmägden über die „Krachbelzin“ geklagt wurde. Deshalb
heisst es im Chorgerichtsmanual:
«Anna Krachbelz, die Wirtin in Lyss, Caspar Martins frouw, ist angeklagt ernstlich, dass sy am vergangenen 1640. Jars angehends Wintters von dem Mr. (Meister) Ulrich Aebi, dem Bruchschnyder, damals ein purgaz yngenommen, dardurch sy irer lybesfrucht beroubet, und das kind also läbendig früsch unnd gsund an die welt geboren worden, bald aber hernach verschiden und gestorben.
Zum andren, dass sy mitt den dienstmägten, wenn sy lycht ettwas verwahrlosen, brächen und entwenden, gar wüst macht, sy schiltet und inen am lohn abbricht, denselben hinderhaltet, dardurch dann die dienstmägt iren alles übels uff den hals wünschen unnd sy verfluchen.“
Auf diese Anklage reagierte die „Krachbelzin“ wie folgt: «Sy habe kein purgaz vom Meister Ully begärt, sonder ettwas nur zur milterung der schmerzen, denn wenn sy gwüsst hette, dass sölches iren und der frucht schaden wurde, sy die purgaz nit hätte wöllen ynnemmen oder die mittel bruchen, so er iren gäben. Zum anderen bekennt sy, dass sy zwar wol ettwas strytts mit den Jungfrouwen ghan wegen einer untrüw, vermeint ab er nit, dass es iren ettwas schaden sölle, obschon sy des iren begärt und demselbigen nachgworben.››
Die Chorrichter fanden diesen Fall zu wichtig, um darüber zu befinden, ohne den «Juncker (Landvogt Wolfgang von Mülinen in Aarberg) zu konsultieren. Im übrigen redeten sie ihr zu, «dass sy mit den diensten und gesten lydenlich und dulttig (geduldig) syge, den untrüwen diensten urloub gäbe und die vollen (betrunkenen) gest abwyse, usw.“.
Offenbar fand auch der Landvogt, dieser Fall „Krachbelz – Aebi“ sei schwerwiegender Art. Deshalb befahl er, den Meister Ulrich Aebi nach Lyss zu zitieren; er selbst werde bei den Verhandlungen anwesend sein.
So lesen wir denn im Protokoll: «Uff Mittwuchen, den 26. Jenner 1642 im bysyn des Edlen vesten Junckeren Wolfgangs von Mülenen, Vogts zu Arberg, Chorgricht ghalten, und sind erschinnen folgende personen: Meister Ulrich Aebi, der Bruchschnyder und Bärenwirt zu Büren, wegen dass er der Wirtin allhie, des Caspar Martins frouw, so gross schwanger gsyn, in irer kranckheit ein gar starcke purgaz yngäben, dardurch ire lybsfrucht also läbendig mit gwalt von ir triben, und sy irer lybsfrucht beroubet worden, dessen er nit lo ugnen könne; sagt aber, er habe nit gwüsst, dass sy mit dem kind gange, man habe imm nichts darvon gseyt.
Der Wirt (Caspar Martin) aber besteht styf daruf, er habe ims düttlich vermeidet, sy syge nit ledig. Diewyl nun die sach sehr wichtig und träff und sy der wortten einander nit bkantlich syn wöllen, sind sy beid für ein Ehrsam Chorgricht gen Bern gschlagen worden.
Meister Ulrich aber, wyl er schon zuvor 6 richtersbott übersächen und niemalen bis yezundt erschynen wöllen, sol von syner unghorsamme wegen 6 pfund und für diss letstmal 1 pfund dem Chorgricht erleggen,thut7 pfund. Mit dem Junckeren Vogt sol er umb die gang und tagkosten abschaffen, wie ouch nit minder von den kosten des
weibels, dass er so mängs mal gen Büren loufen müssen. Hett ouch dem Junckeren in die hand globen müssen, angänz um den kosten abzuschaffen oder denn ze verbürgen.››
Und wie es so geht: ein Unglück kommt selten allein; ihr Mann selbst erkrankte schwer. Dies verrät uns folgende Stelle im Chorgegerichtsprotokoll; «Vor Chorgricht ist erschinnen Hanns Boumgarter,Nigli Boumgalters Sun,wegen dass er vil gschreys,wäsens und wärffens ghan umb das wirtshuss, den wirt in syner kranckheit betrübt und molestiert, nach den tuben uff dem tach gworffen.››
Das gab er ohne weiteres zu, rechtfertigte sich jedoch: «er heige ein tuben verlohren ghan, welche under des wirtts tuben gsyn syge.“ Man vermahnte ihn, «desswegen von sölchem muttwilen abzustahn“, besonders im Hinblick auf den Zustand des Wirtes. Tatsächlich verstarb kurz darauf der Wirt, und Anni Krachbelz musste allein die Wirtschaft und den dazugehörigen landwirtschaftlichen Betrieb lenken.
Wahrlich, sie hatte es nicht leicht. Man denke doch auch an all die verschiedenen Gäste, die in die Wirtschaft kamen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es nur eine Wirtschaft gab damals. Alle kehrten hier ein, und was für Welche! Sie hatte weder die Kraft noch den Mut, gegebenenfalls betrübliche Elemente vor die Türe zu setzen. So blieb ihr denn nichts übrig, als beim Chorgericht zu klagen, wie folgender Protokollauszug beweisen mag: «Der Sigrist Hans Klentschi ist angeklagt worden,dass er verschinnen (letztes) Neüwen-Jahrs im Wirtshaus sich so fast mit wyn gefüllt, dass er durch die hosen sinen harn in die stuben gehen lassen; wyl er aber geleügnet, er heige gschlafen und niemand begert etwas zuleid zethun, hat dargegen die wirti Krachbelzen gezüget, dass entweders der Siegrist oder Peter Möri oder der
Statthalter Stuber von Wyler es gethan, doch vermeint die wirti, der Sigrist heige es gethan, dan er trincke gar schwitig und begirig,›› Auch an ihren Kindern sollte sie nicht eitel Freude erleben. Es ist zwar anzuerkennen: der ältere Sohn, Caspar, griff mit den Jahren tapfer zu. Ja, es schien fast, als wollte er allen Leuten zeigen, dass man
ihm nichts vorzumachen brauche, er wisse alles und wisse es besser als alle andern, obschon er kaum zwanzig Jahre zählte.