Ach diese Jungen

Um 1700 War die Kindersterblichkeit, wie man weiss, viel grösser als heute. In Lyss gab's keinen Arzt. Bei einer Einwohnerzahl von rund 500 Personen konnte man das auch nicht erwarten. Dass hier die Kindersterblichkeit eher noch über dem Mittel lag, ist verständlich. Die nächsten Ärzte praktizierten in Nidau und Büren. Sie verschrieben, respektive verabreichten unter anderem einen Trank, eine sogenannte «Purgaz››, die auch verheerende Folgen haben konnte, wie beispielsweise bei Anna Krachbelz, der Frau des Wirtes Martin.

Auch die beiden Frauen Herrli und Steinegger hatten schwer, ganz schwer leiden müssen; nur ein einziges Kind blieb jeder am Leben. Und wie es in solchen Fällen geht: Mutter Herrli behütete ihren Christeli, und Mutter Steinegger verzärtelte ihren Benzli, wie es im Buche steht. Christen wurde Schneider; aber noch als ausgelernter Schneider blieb er für die Mutter der vergötterte Christeli, und Mutter Steinegger rühmte stolz, wie schön und so schnell ihr Benzli, nun ein strammer Kerl, weben könne.

Man muss zugeben, die beiden Jungen verstanden ihr Handwerk und verdienten schon recht gut. Zudem steckten ihnen die beiden Mütter gelegentlich, wenn's der Vater nicht merkte, einige Batzen in die Tasche und putzten sie heraus, Wie sie konnten. Sie sollten sich zeigen dürfen im Dorfe.

Und sie zeigten sich! Da sie daheim «Kost und Logis›>, wie man heute sagt, gratis erhielten, konnten sie über ihren Lohn frei verfügen; aber was konnte man damals schon mit dem überschüssigen Geld anfangen? Tabak <<trinken›› - Wein trinken -, das war so ziemlich alles, denn das Tanzen, Spielen, Kegeln waren verboten. Also gingen sie wie die Grossen ins Wirtshaus zum Trunk und «tranken›> auch Tabak in so herausfordemder Weise, dass sie der Chorrichter Bendicht Kläntschi einmal zur Rede stellte und ihnen androhte, man würde sie vor Gericht zitieren, besonders weil Benz Steinegger in angeheitertem Zustande schon einigemal in später Nacht auf dem Heimweg allerlei tierähnliche Laute von sich stiess, dass die Leute aus dem Schlafe aufschreckten. Diese wohlgemeinte Warnung wirkte besonders bei dem kraftstrotzenden Benz eher wie ein Guss Öl ins Feuer, während der etwas unsichere Christeli bereit gewesen wäre, schon seinem Mueti zulieb, sich inskünftig anständiger zu verhalten. Aber - wie es so geht: mitgegangen, mitgehangen! Am Tag darauf trieben es die Jungen ärger denn je, und nun können wir nur noch auszugsweise das ausführliche Protokoll über die Chorgerichtsverhandlung sprechen lassen: «Am 6. Merzen 1711 sind vor Chorgricht

citiert worden Christen Herrli, der Schneider, und Benz Steinegger, der Wäber, von wegen des grossen Geschreyes, Jauchzens und ärgerlichen Unwesens, so sie am verwichenen Zinstag bey gar spather Zeit toll und voll verübt und angestellt» «Neben dem Jauchzen und brüllenden Geschrey seien auch allerhand Unfläthereyen, garstige und zottige Wort, ja Vorstellungen der Rede gleich einem Hund, Katz, Gans, Schwein gehöret worden...›› «Christen Herrli hat stracks eine demüthige Bekantnus gethan, dass er bey seinem trunckenen Zustand auch gejauchzet, und bette darum Gott und eine Ehrbarkeit umb Verzeihung, jedoch solche Viechheiten habe er nicht verübt» «So ist darumb Benz Steinegger angeredt worden, welches er nicht absollut gelaugnet... und auf eine gar kalte und feige Weise geantwortet, daraus man leicht abnemmen können, dass er der Verbrecher und Thäter dieser Bosheiten gewesen»

Deshalb beschloss man, dass der Christen Herrli «einmahl 24 Stund, der Benz Steinegger aber zweymahl 24 Stund mit der Gefangenschaft solle abgestrafft werden, damit sich andere hinführo daran stossen und an ihrer Straff erspiegeln, was auch sie zu erwarten hätten››. Also eine exemplarische, vorbeugende Strafe. So etwas hatte keiner erwartet. Nach Eröffnung des Urteils «haben sie sich sehr beklagt, gebehrdeten sich jämmerlich›>, hielten «innständigst umb Erlassung der Gefangenschaft» an, wollten dafür ihr Gut einsetzen und versprachen, sich zu bessern. . Das Chorgericht blieb ungerührt. Die beiden Jungen mussten die Hiobsbotschaft heimbringen, eröffneten den Eltern aber zugleich ihren Entschluss, bevor sie in die Kefi gehen, werden sie sich für fremde Kriegsdienste anwerben lassen.

Das rief die beiden Mütter auf den Plan. Sie liefen gemeinsam ins Pfrundhaus zum Prädikanten und «haben mit herben Thränen flehentlich gebetten›>. doch dahin zu wirken, dass Christeli und Benzli nicht in die Kefi müssen.

Dem Prädikanten wurde bewusst, dass die Jungen wirklich zum Reislaufen getrieben werden könnten, wenn die Ehrbarkeit kein Einsehen zeigen wollte; er bot deshalb im Einverständnis mit dem Meyer sofort zu einer neuen Sitzung auf, und im Protokoll darüber steht zu lesen: «Zu dem End sind sie (Christen und Benz) den 8. Merz wider für unser Chorgricht gemacht zu erscheinen, damit sie persönlich das ganze Chorgricht hierumb ersuchen möchten. Dasselbe aber hat von seinem ersten Ausspruch und Erkantnus nicht abstehen noch nachgeben Wollen mit dem Grund, dass es ihnen nicht frey stehe, sie der Gefangenschaft, darzu sie am letztenmahl condemniert worden, zu entheben, sonder es stehe am Herren Landvogt, ob er ihnen selbige schenken und in eine Geltbuss nach ihrem Begehren verwandeln wolle. Darüber sie abermahlen nicht wenig consterniert worden. Doch damit sie nicht eine Ungedult ergreiffen und aus Forcht der Stratf sich in frembde Dienst verfügen möchten, hab ich ihne verheissen, ich wolle für sie eine Intercehsion bey Herrn Landvogt thun und daselbs in ihrem Namen anhalten, dass sie dissmahl der Gefangenschaft halber lähr ausgehen, welches auch erfolget, da dann der Herr Landvogt anstatt der Gefangenschaft dem Christen Herrli 3

Pfund, dem Benz Steinegger aber 6 Pfund zur Straff auferlegt.

Seither thun sie nun gut und halten sich in und ausser der Kirchen ganz still.››